Montag, 11. Juli 2022

High Tech im Übungsalltag der Bundeswehr

Der Besuch von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht im Gefechtsübungszentrum (GÜZ) bei Gardelegen versprach eine laute und staubige Angelegenheit zu werden. Die Kampfstiefel waren noch mit der Patina der jüngsten deutsch-britischen Übung überzogen und warteten auf einen spannenden Pressetermin in der Natur. Und Natur gibt es hier reichlich. Ist erst einmal der satte Sound des Leoparden verhallt, hört man hier seltene Vögel wie den Pirol. Es kommt auch regelmäßig vor, dass Reh und Hase noch schnell durch das Bild huschen, während die Kamera schon auf die Lichtung positioniert ist, wo gleich die Feindkräfte erscheinen sollen.

Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen
Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen

Statt mit scharfer Munition wird im GÜZ mit Lasertechnik geschossen. Statt die zigtausend Euro für eine MELLS-Kartusche zu investieren, wird ein Laserimpuls ausgelöst und der Knall mit einer Signalpistole simuliert. In den mattgrünen Toyota-Geländewagen mit dem weißen Kreuz - ein sichtbares Zeichen für Unterstützungskräfte - sitzt das militärische Personal höchstens auf dem Beifahrersitz. Am Steuer sitzen zivile Mitarbeiter der Firma Saab, die die Technik überwachen.

So begann der Besuch der Ministerin heute im "Herzstück" des Gefechtsübungszentrums, einem großen Raum mit Empore und vielen Arbeitsplätzen mit jeweils vier Bildschirmen. Von hier aus werden die Übungen auf sämtlichen Truppenübungsplätzen von Gardelegen/Letzlingen bis Klietz, Munster, Celle und Altengrabow gesteuert und überwacht. Das Bedienpersonal hat sämtliche Bewegungspfade und Ereignisse im Blick, kann die Szenarien jederzeit abrufen und auf externe Videoleinwände spielen. Das verkürzt die Zeit der Auswertung und Optimierung erheblich. Kein Soldat kann sich herausreden, er hätte woanders gestanden, eine Situation nicht kommen gesehen und sei gar nicht getroffen worden.

Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - Sensoren des AGDUS-Systems von SAAB
Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - Sensoren des AGDUS-Systems von SAAB

Was bis vor wenigen Jahren noch die Schiedsrichter manuell bewerten mussten, passiert jetzt mit hochkomplexer Sensorik. Dafür sind sämtliche Handwaffen, Fahrzeuge, Soldaten, Darsteller von Feindkräften und sogar Gebäude mit Sensoren und Effektgeräten ausgestattet. Die Einschläge von Steilfeuer wie Mörser oder Artillerie werden mithilfe von Nebel-Fahrzeugen simuliert. Getroffene Fahrzeuge fangen plötzlich an, Weiß zu blinken. Manch ein Grenadier ist erstaunt, wie schnell ein Gefecht vorbei sein kann. So wie der Personenschützer, der beim Fahrtraining in eine Wasserwand rast, ist der hier übende Soldat noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen. Nach jedem Übungsabschnitt wird ausgewertet: War die Wahl des "Verfügungsraumes" gut? Warum nicht? Was hätte man besser machen können?

Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - Effekt-Generatoren und Sensoren des AGDUS-Systems von SAAB
Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - Effekt-Generatoren und Sensoren des AGDUS-Systems von SAAB

Insbesondere beim Umgang mit Verletzten läuft immer ein Sanitätsausbilder mit. Der genau notiert, wie die Erste Hilfe abgelaufen ist. Diese Sanitätselemente als Teil einer Übung sind in letzter Zeit oft zu sehen und zeichnen ein realistisches Bild des möglichen Ernstfalles. So blieb es bei der heutigen Übung nicht einfach dabei, dass ein Selbstmordattentäter den Weg heruntergefahren kommt und erst durch konsequenten Beschuss "vernichtet" werden kann. Plötzlich tauchen noch feindliche MG-Schützen auf und beschießen die übende Truppe von der Seite. Auch diese werden erfolgreich "bekämpft", aber mit dem Effekt, dass es Verwundete in den eigenen Reihen gibt. Diese müssen behelfsmäßig per LKW aus der Gefahrenzone geholt werden und werden erst anschließend ärztlich versorgt. Wohl dem, der wie in der heutigen Übung, zeitnah mit einem Hubschrauber NH90 in die nächste "Versorgungsebene" ausgeflogen werden kann.

Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - dynamische Vorführung / Übung mit Bergung von Verletzten per Hubschrauber NH90
Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - dynamische Vorführung / Übung mit Bergung von Verletzten per Hubschrauber NH90

Nach dieser faszinierenden Darstellung technischer und taktischer Fähigkeiten ging es weiter in die hochmoderne Ortskampfanlage Schnöggersburg. Diese Kleinstadt wurde mit sämtlichen Vierteln angelegt, die es in einer Stadt gibt: Industriegebiet, Altstadt, Hochhaussiedlung, "Elendsviertel", Ruinen-Vorort mit beweglichen Straßensperren, Bahnlinien, Kreuzungen, Kreisverkehre, Regierungsviertel und sogar ein Flugplatz mit unbefestigter Start-/Landebahn. Die Häuser wurden alle nach den strengen, deutschen Bauvorschriften errichtet, sind aber weitestgehend leer. Überall sind Sensoren angebracht, die auf Effekt-Generatoren wirken. Ausgelöst werden diese durch einen initialen Schuss. Die Folgen können zur Situation passender Lärm oder Nebel sein. Die Simulation berücksichtigt auch den Fall, dass das Geschoss von der Seite oder von oben in das Haus eindringt und dort entsprechenden Schaden anrichtet. In Interaktion mit den Sensoren am Körper der übenden Truppe werden dann entprechende Signale zum Zustand der Personen im Haus übergeben.

Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - Darsteller von Feindkräften vergraben einen Sprengsatz an einer Kreuzung in der Ortskampfanlage Schnöggersburg.
Verteidigungsministerin Lambrecht besucht das Gefechtsübungszentrum GÜZ des Heeres bei Gardelegen - Darsteller von Feindkräften vergraben einen Sprengsatz an einer Kreuzung in der Ortskampfanlage Schnöggersburg.

Selbst die Darsteller von Feindkräften, die kurz vor dem Eintreffen der Ministerin einen großen Sprengsatz an einer Kreuzung vergraben wollten, hatten Gurte mit Sensoren umgelegt. Es könnte ja sein, dass sie von den "Guten" entdeckt und "neutralisiert" werden. Die Darsteller kommen aus ganz verschiedenen Pionierbataillonen und haben richtig Spaß an der Tätigkeit. Gegenüber Christine Lambrecht äußerten sie sich zufrieden über die abwechslungsreichen Aufträge und den erheblichen Zuwachs an Erfahrungen.

Ob der Sprengsatz gezündet werden konnte, ist nicht bekannt, da das Programm im Besucherzentrum von Schnöggersburg fortgesetzt wurde. Dort traf sich die Ministerin noch etwas länger zu Gesprächen mit Soldaten und gab kurz vor der Abreise per Hubschrauber ihr gewohnt kurzes Statement.

Autor: Matthias Baumann

Video zum Besuch im GÜZ inklusive Schnöggersburg


Freitag, 8. Juli 2022

Kritische Bestandsaufnahme als Fortführung der Eckpunkte für die Zukunft der Bundeswehr

"Kritische Bestandsaufnahme" klingt erst einmal nicht so charmant wie der Begriff "Eckpunkte". Jedoch hatten es schon die vor einem Jahr veröffentlichten "Eckpunkte für die Zukunft der Bundeswehr" in sich. Besonderes Missfallen erregten sie beim Sanitätsdienst und in der Streitkräftebasis. Die Pläne zur strukturellen Umverteilung stießen bei den betroffenen Einheiten nur auf bedingte Gegenliebe. Besonders die Dienstgrade mit Laub und Sternchen auf der Schulter waren wenig erfreut über die drohende Aufgabe ihres schon lange als redundant angesehenen Standortes in Bonn. Die Wege waren kurz. Das Häuschen war abgezahlt. Die Familie lebte glücklich und zufrieden fernab vom städtischen Getümmel.

Zittern bei Sanitätsdienst und Streitkräftebasis

Beim Sanitätsdienst hatte man sich schnell auf kurzem Wege über Lösungen verständigt, die für alle gangbar waren. Besonders hartnäckig kämpfte fortan die SKB (Streitkräftebasis) um ihre Daseinsberechtigung. Die Flutkatastrophe im Ahrtal und die Corona-Pandemie verschärften das noch. Dem Nationalen Territorialen Befehlshaber, Generalleutnant Martin Schelleis, der gleichzeitig als Inspekteur der Streitkräftebasis fungierte, wurde plötzlich durch den operativen Teil, dem Kommando Territoriale Aufgaben (KdoTA), die Show gestohlen. Auch wenn Martin Schelleis immer wieder präsent war, konnte er sich doch kaum gegen das mediale Interesse an Generalmajor Carsten Breuer durchsetzen. Dieser bekam den inoffiziellen Titel "General Amtshilfe" und wurde sogar in den Krisenstab des Kanzleramtes berufen.

Wenn die Truppe die Ministerin führt:

Wie groß war die Erleichterung, als Annegret Kramp-Karrenbauer ihr Büro im Verteidigungsministerium räumen musste und die Eckpunkte auf Eis gelegt wurden. Die Entspannung war jedoch nur von kurzer Dauer. Die hilflos wirkende Amtsnachfolgerin wurde bereits Mitte Dezember 2021 bei ihrem ersten Truppenbesuch auf die verheerenden Lücken in der Ausrüstung hingewiesen. Hier zeigten sich der Inspekteur der Streitkräftebasis und seine Soldaten vom Logistikbataillon 172 Beelitz didaktisch äußerst clever. Die Ministerin wurde zunächst an einem uralten, schon halb verrosteten Pritschenwagen vorbeigeführt. Davor stehen bleibend wurde ihr das Thema Ersatzteile und Materialversorgung nahe gebracht. Nachdem ihrem Munde das Wort "Oldtimer" entglitten war, konnten die Kommandeurin und der Inspekteur sicher sein, dass sie die Botschaft verinnerlicht hatte. Dann ging es sofort weiter mit dem Dauerbrenner Lochkoppel. Auch das wurde genüsslich zelebriert und erst anschließend zu den moderneren und unkritischen Stationen des statischen Displays geschlendert.

Territoriales Führungskommando  in Berlin

Christine Lambrecht musste in den folgenden Wochen noch so einige Mitfahrten und Mitflüge über sich ergehen lassen. Die Truppe kannte kein Pardon und stopfte die Ministerin in den NH90, in den A400M oder in den Boxer. Das führte zwar nicht zu einer Enteisung des Eckpunkte-Papiers, dafür aber Ende Januar 2022 zum Start der "kritischen Bestandsaufnahme". Und wieder wurde es in der Streitkräftebasis unruhig. Dass diese Unruhe berechtigt war, zeigt die Entscheidung vom 13. Juni 2022, ein Territoriales Führungskommando (TerrFüKdoBw) in Berlin aufzustellen. Diese neue Dienststelle soll im Oktober 2022 an den Start gehen und sämtliche Aktivitäten der Bundeswehr mit nationalem, territorialem Bezug steuern. Dem Befehlshaber des TerrFüKdoBw werden die Aufgaben des Nationalen Territorialen Befehlshabers übertragen. Dem Kommando werden die Landeskommandos, die Heimatschutzkräfte, das Zentrum für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit, die deutschen Anteile des NATO Joint Support and Enabling Command (JSEC) und des multinationalen Kommandos Operative Führung (MNKdoOpFü) unterstellt. Das TerrFüKdoBw wird auch kein eigener Organisationsbereich mehr sein, sondern direkt unter dem Ministerium angesiedelt. Zuständig ist dort der stellvertretende Generalinspekteur - aktuell Generalleutnant Markus Laubenthal.

Zentrales Thema Landes- und Bündnisverteidigung

Als roter Faden zieht sich das Thema LV/BV (Landes- und Bündnisverteidigung) durch das Papier. Christine Lambrecht hatte sich schon sehr frühzeitig die Optimierung des Beschaffungswesens auf die Fahnen geschrieben. So wolle man europäischen Partnern bei der entspannten Auslegung von Beschaffungsregeln folgen und nicht mehr die exklusiv für die Bundeswehr entwickelte Goldrandlösung in Auftrag geben. Pragmatismus und schnelle Verfügbarkeit sind Gebote der Stunde - getrieben von den Zielgedanken der "Kaltstartfähigkeit" und der "Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr". Die Wehrbeauftragte, Dr. Eva Högl, macht der Ministerin auch regelmäßig deutlich, wie es um die Ausstattung der Truppe steht. Wer kann sich schon der Argumentation einer kompetenten Berufs- und Parteikollegin entziehen?

Die acht Seiten der "kritischen Bestandsaufnahme" machen deutlich, dass es sich hier nicht um ein Werk für die Schublade handelt. Einige der Punkte wurden bereits umgesetzt oder befinden sich in unmittelbarer Umsetzung. Der Gesamtprozess dieser Betrachtung soll im Dezember 2022 abgeschlossen sein. Eine kritische Zwischenbilanz ist für September 2022 geplant - in der Hoffnung, dass die Bundeswehrtagung nicht wieder durch eine Pandemie gestört wird. Der Störer Russland hat jedenfalls dazu beigetragen, dass viele überfällige Prozesse in der Bundeswehr signifikant beschleunigt wurden.

Autor: Matthias Baumann

Dienstag, 5. Juli 2022

Neues strategisches Konzept der NATO

Wer beim NATO-Gipfel in Madrid über die bemerkenswert große politische Komponente erstaunt war, wird beim Lesen des neuen "strategischen Konzeptes" der NATO wieder auf den Boden militärischer Tatsachen zurückgeführt. Es beginnt damit dass die 49. Einzelpunkte des Konzeptes nur neun A4-Seiten brauchten: kurz, knapp und auf den Punkt.

Die 49 Punkte verteilen sich auf folgende Rubriken: Ziele und Prinzipien, strategisches Umfeld, Kernaufgaben der NATO sowie die Sicherung einer erfolgreichen Weiterentwicklung. Die Kernaufgaben mit ihren 27 Unterpunkten lassen sich in die drei Kategorien "Abschreckung und Verteidigung", "Vermeiden und Managen von Krisen" und "sicherheitspolitische Kooperationen" einteilen.

NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt das neue strategische Konzept der NATO vor.
NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt das neue strategische Konzept der NATO vor.

Es wird mehrfach betont, dass die NATO ein Werte-Verbund ist, der eng mit den Interessen europäischer Demokratien verwoben ist und maßgeblich von den USA flankiert wird. Betont wird ferner, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist, das jedes seiner Mitglieder zu schützen bereit ist. Derzeit betrifft das vorrangig die Ostflanke der NATO. Kein Wunder also, dass Russland mit vier Punkten die Pole Position in der Feststellung des strategischen Umfeldes einnimmt. Das strategische Konzept listet praktisch alle Felder der seit mehr als sechs Jahren bekannten Felder der hybriden Kriegsführung Russlands auf: subversive Einflussnahme auf europäische Zivilgesellschaften, Desinformation, Cyberangriffe, Störung der Seewege, Abschalten von Gaslieferungen, Erpressung, Ausbau nuklearer Fähigkeiten, Modernisierung und Stationierung von Raketensystemen in der Nähe von Bündnispartnern.

Das Papier bedauert, dass es kaum noch Kontrollvereinbarungen zu nuklearen und konventionellen Waffen gibt - und erst recht keine Transparenz mehr. China, Russland, Nordkorea und der Iran machen einfach ihr eigenes Ding und der Westen hetzt hinterher. Erst Mitte Mai 2022 konnte die US Air Force den Rückstand bei Überschall-Langstreckenraketen schließen. Gleiches gilt für die fortschreitende Digitalisierung sämtlicher Truppengattungen bis hin zum Infanteristen, der bei der Bundeswehr nach und nach mit dem System IdZ (Infanterist der Zukunft) ausgerüstet wird.

Neben Corona, Ukraine und 9-Euro-Ticket fällt das Thema Terrorismus oft durch die Raster der Berichterstattung. So wie der Verfassungsschutzbericht hat auch das strategische Konzept der NATO den Terrorismus im Blick. Dieser muss auf verschiedenen Ebenen verhindert und bekämpft werden. Hier geht der Blick in den Mittleren Osten, nach Nordafrika und in die Sahelregion. Der Ansatz ist eine Stärkung regionaler Sicherheitsstrukturen.

Die NATO ist sich bewusst, dass den modernen, hybriden Bedrohungen auch nur hybrid zu begegnen ist. So sollen die unterschiedlichen militärischen, technischen und medialen Fähigkeiten stärker miteinander verzahnt werden. Das Konzept stellt auf eine stärkere zivil-militärische Zusammenarbeit ab. Damit sollen die Mitgliedsstaaten die nötige Resilienz aufbauen und potenziellen Angreifern "robust" entgegentreten können. Robust, schnell, flexibel und kampfbereit sind die unmissverständlich vorgetragenen Eigenschaften des Verteidigungsansatzes. Vor einem Jahr wären diese Eigenschaften noch spöttisch als fehlerhafte Selbsteinschätzung belächelt worden. Inzwischen dürfte klar sein, dass die NATO diese Eigenschaften auch leben kann.

Entsprechend rau ist der Ton bezüglich hybrider Angriffe, mit denen sich einzelne NATO-Staaten bisher alleine herumschlagen mussten. Nun schwingt der Artikel 5 (Bündnisfall) mit. Russland muss sich nun also sehr genau überlegen, welches Klinikum es per Cyberangriff lahmlegt. Auch bei Atomwaffen hält die NATO dagegen und erklärt sehr deutlich, dass sie über entsprechende Möglichkeiten verfüge und diese nutzen werde, um einem möglichen Gegner die Kosten so sehr in die Höhe zu treiben, dass der Nutzen durch den Aufwand weit übertroffen wird.

Im Abspann des Papiers wird noch einmal die euro-atlantische Sicherheit und Beziehung betont. Es wird auf die Beitrittskandidaten an der Peripherie der NATO und auf die Partnerstaaten im Indo-Pazifik eingegangen. Die internationale Verflechtung bei Klima, Lieferketten und anderen Bereichen ist inzwischen so komplex, dass Antworten nur noch mit umfangreichen Konzeptpapieren skizziert werden können.

Autor: Matthias Baumann

Freitag, 1. Juli 2022

NATO-Gipfel 2022 in Madrid mit weitreichenden Entscheidungen

Am Akkreditierungszentrum herrschte Urlaubsstimmung. Zahllosen Bussen entstiegen Spanisch sprechende Medienvertreter: gekleidet und bepackt, als würden sie gleich im Hotel auf Mallorca einchecken wollen. 30 Grad Celsius, kaum Wolken am Himmel, Jounalisten mit Anzug ganz klar overdressed. Die Spanier stiegen in andere Busse um, die von jeweils zwei Motorrädern zur benachbarten Messe eskortiert wurden. Nur wer das passende Badge hatte, das dann auch noch mit dem Pass übereinstimmen musste, wurde in den Shuttle-Bus gelassen.

NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - Beflaggung der City von Madrid
NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - Beflaggung in der City von Madrid

Das Messegelände neben dem Flughafen war abgesichert wie eine Festung. Es mussten mehrere Schleusen passiert werden. Polizeibusse mit Steinwurfschutz, multifunktionale Schützenpanzer Pegaso BMR mit blauer Polizeilackierung, Slaloms, wurfbereite Krähenfuß-Seile, Sturmgewehre und weitere Maßnahmen hätten einen unbefugten Zutritt schon an der Peripherie verhindert. Auch im Zentrum des Geschehens immer wieder sorgfältiges Prüfen der Badges. Die Messehalle 4 war durch andere Messehallen abgeschirmt, so dass auch die Fußwege vom Shuttle-Bus aus recht lang waren. Vorher ging es natürlich noch durch eine Durchleuchtungsanlage und die manuelle Prüfung von Kameras und Notebooks.

NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - umfangreiches Sicherheitskonzept
NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - umfangreiches Sicherheitskonzept - hier: Absicherung des Königspalastes anlässlich des Gala-Dinners

Das Sicherheitskonzept wirkte generalstabsmäßig organisiert und funktionierte auch bezüglich des Faktors Zeit sehr gut. Wer die NATO allerdings nur von der operativen Seite her kennt, wird erstaunt gewesen sein, so gut wie keine Uniformträger auf dem Gipfel gesehen bekommen zu haben. Wenige 3-Sterner oder 4-Sterner liefen in seltenen Fällen durch die Kameras. Aber auch die begleitenden Außenminister und Verteidigungsminister waren selten zu sehen. Dafür waren aber die Staats- und Regierungschefs deutlich präsenter. Je nachdem, wer im jeweiligen Land für das operative Tagesgeschäft zuständig ist, war in Madrid erschienen. Bei Frankreich, Litauen und den USA waren es die Präsidenten. Bei Estland, Deutschland oder Schweden waren es die Ministerpräsidenten oder Kanzler.

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Außenministerin Annalena Baerbock, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und seinen Berater Jens Plötner mitgebracht. Während Christine Lambrecht so gut wie gar nicht in Erscheinung trat, scheute Annalena Baerbock die Presse nicht. Zudem intensivierte sie den guten Draht zu ihren Kollegen. Annalena Bearbock hat schon aus privatem Hintergrund erhebliche Kompetenzen im Umgang mit Putin. In einem Buch über Kindererziehung hatte ein US-Diplomat berichtet, dass ihm die Erfahrungen mit seiner pubertierenden Tochter weit mehr beim Umgang mit russischen Verhandlungspartnern gebracht habe, als sämtliche diplomatische Lehreinheiten.

Der internationale Presseandrang war groß: im Medienzentrum waren 950 Arbeitsplätze mit Tisch, Steckdosen und LAN-Kabel eingerichtet. Hinzu kamen unzählige Video-Schnitt-Kabinen und Plätze für Interviews. Gefühlt waren vorrangig osteuropäische und spanische Medien vor Ort. Deutsch war nur selten zu hören. Wahrzunehmen waren in den drei Tagen nur die großen Medien wie ARD/Phoenix, dpa oder WELT.

Der 28. Juni 2022 als erster Tag des Gipfels bestand aus Vorgeplänkel: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez machten einen Rundgang durch Messehalle 4. Anschließend eröffneten sie in kleiner Runde den Gipfel. Dann gesellte sich noch König Felipe VI. mit einer Rede hinzu und dann flogen die ersten Staatsgäste auf dem benachbarten Flughafen ein. US-Präsident Biden und der türkische Präsident Erdogan hatten ihre eigenen Fahrzeuge mitgebracht. Möglicherweise wussten sie, dass die VIPs in Madrid mit unauffälligen oder betagten Autos wie Audi A4, Ford Mondeo oder über 12 Jahre alten Oberklasselimousinen von BMW und Mercedes durch die Stadt chauffiert werden sollten. Am Abend gab es das erste große Zusammentreffen der Entscheidungsträger bei einem Gala-Dinner im Schloss des Königs.

NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - Gala-Dinner im Königspalast mit König Filipe VI.
NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - Restaurant mit Blick auf den Königspalast, wo gleich das Gala-Dinner mit König Felipe VI. beginnen sollte.

Der zweite Tag des Gipfels begann sehr früh. Wer noch Hoffnung auf eine der begehrten Pool-Karten für die Bildpositionen des Tages hatte, wollte spätestens um 7 Uhr auf dem Messegelände sein. Diese wurden jedoch nur an große Agenturen, große Sender und Spanier verteilt. Wer Spanisch sprach, war hier klar im Vorteil. Selbst große Teile des Servicepersonals sprachen nur Spanisch. Das war sehr unpraktisch, wollte man sich gegen die mehreren Hundert Kollegen durchsetzen. So mussten viele Bildjournalisten das Geschehen über die großen Videowände verfolgen: Es begann mit der etwa zweistündigen Vorfahrt der Staatsgäste und Delegationen. Es folgten Einzelfotos mit Staatsgast, Jens Stoltenberg und Pedro Sánchez. Den Abschluss bildete immer Joe Biden. Dann gab es das obligatorische Gruppenfoto und der eigentliche Gipfel konnte beginnen.

Am Nachmittag reisten ausgewählte Staats- und Regierungschefs aus Partner-Ländern und dem Indo-Pazifik an. Als Partner der NATO zählen Staaten, die keine Mitglieder sind, aber einen Partnerstatus haben. Österreich nahm zwar nicht am Gipfel teil, ist aber solch ein NATO-Partner. Auch die beiden Ministerpräsidentinnen von Finnland und Schweden reisten an. Bereits am Montag hatte man den türkischen Präsidenten Erdogan zu einer Billigung der NATO-Mitgliedschaft von Schweden und Finnland bewegen können. Finnland und Schweden waren als Nachbarn von Russland sehr an einer Mitgliedschaft interessiert. Dieser Neuaufnahme wurde dann tatsächlich noch an demselben Tag zugestimmt. Getreu dem Spruch: "Aus Russland kommt nichts Gutes, außer dem Wetter.", hat Finnland eine lange Tradition der Resilienz gegen russische Gebietsgelüste. Auch bei der Abwehr russischer Desinformation kann Deutschland noch viel von Finnland lernen. Laut Olaf Scholz passen Finnland und Schweden gut zum Bündnis und stellen eine Bereicherung für die NATO dar. Den Ausklang des Tages bildete ein "informelles transatlantisches Abendessen" im Prado-Museum.

NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt das neue strategische Konzept der NATO vor.
NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt das neue strategische Konzept der NATO vor.

Der dritte und letzte Tag des NATO-Gipfel startete recht entspannt. Bis halb 10 Uhr trafen die Staatsgäste und deren Delegationen ein. Begleitet von Vogelgezwitscher schlenderten die nachgeordneten Delegierten zum Tagungsort. Während sich der Saal füllte, bewunderte der Ministerpräsident von Luxemburg, Xavier Bettel, die Frisur seiner Kollegin aus Estland, Kaja Kallas - ein wahrer Charmeur. Dann setzten sich die Entscheidungsträger und unterzeichneten den "NATO Innovation Fund Letter of Commitment" (Verpflichtungserklärung zum NATO-Innovationsfonds). In den folgenden drei Stunden tagten die NATO-Mitglieder weiter, während sich vor den verschlossenen Türen bereits ein reges Treiben zur Vorbereitung der Abschluss-Pressekonferenzen entfaltete. Den nationalen Staatschefs standen dafür separate Konferenzräume zur Verfügung. Den Auftakt im großen Pressekonferenzraum bildete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Festgestellt und beschlossen wurde Folgendes:

- Lage hat sich massiv verändert.
- Schweden und Finnland treten der NATO bei.
- Ukraine wird langfristig unterstützt.
- Verabschiedung eines neuen strategischen Konzeptes der NATO
- Wichtigkeit des Klimaschutzes und Einrichtung eines Klimafonds
- Erhöhung der nationalen Verteidigungsausgaben
- Erhöhung des NATO-Budgets
- Stärkung der strategischen Partnerschaften - auch im Indo-Pazifik
- Herausforderungen im Mittleren Osten, Nordafrika und Sahel
- Diese Region hat Einfluss auf unsere Sicherheitslage - insbesondere durch Terrorismus
- Kampf gegen Terrorismus in all seinen Facetten
- Stärkung des Informationsaustauschs zwischen den Nachrichtendiensten
- Verhinderung der Rückkehr des IS im Irak
- Verteidigungspaket für Mauretanien (gegen illegale Migration und Terrorismus)
- Unterstützung für Tunesien und Jordanien
- Lösungsansätze zum Export von Getreide aus der Ukraine
- NATO-Gipfel 2023 in Vilnius, Litauen, geplant.

Kaum hatte Jens Stoltenberg die Bühne verlassen, wurden die spanische, sowie die NATO- und EU-Fahne aufgestellt und der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez stellte sich der Presse. Mit einem mehrfach und optisch nachdrücklich vorgetragenen "We have to clean the room!" (Wir müssen den Raum säubern!) wurde anschließend die gesamte Presse samt Taschen, Notebooks und sonstiger Ausrüstung aus dem Raum "getrieben". Dann wurden das markante Rednerpult und die Teleprompter des US-Präsidenten auf die Bühne geschafft und per Maßband auf dessen Redegepflogenheiten einjustiert. Das bekannte Wappen wurde aus einem gepolsterten Samtsäckchen geholt und am Pult eingehakt. An der Tür wartete bereits die White House Press mit überdimensionierten Pool-Karten um den Hals. Dahinter folgten die weniger privilegierte Restpresse, die eine rote Poolkarte für die Pressekonferenz mit Joe Biden hatte ergattern können.

14 Uhr: Hubschrauber über dem Areal, brütende Hitze, davoneilende Medienvertreter, Jute-Beutel mit Madrid-Werbung und Stau im Umkreis des Messegeländes. Ein als historisch eingestuftes Ereignis ging zu Ende.

Autor: Matthias Baumann

Video zu 3 Tagen NATO-Gipfel in Madrid