Dienstag, 5. Juli 2022

Neues strategisches Konzept der NATO

Wer beim NATO-Gipfel in Madrid über die bemerkenswert große politische Komponente erstaunt war, wird beim Lesen des neuen "strategischen Konzeptes" der NATO wieder auf den Boden militärischer Tatsachen zurückgeführt. Es beginnt damit dass die 49. Einzelpunkte des Konzeptes nur neun A4-Seiten brauchten: kurz, knapp und auf den Punkt.

Die 49 Punkte verteilen sich auf folgende Rubriken: Ziele und Prinzipien, strategisches Umfeld, Kernaufgaben der NATO sowie die Sicherung einer erfolgreichen Weiterentwicklung. Die Kernaufgaben mit ihren 27 Unterpunkten lassen sich in die drei Kategorien "Abschreckung und Verteidigung", "Vermeiden und Managen von Krisen" und "sicherheitspolitische Kooperationen" einteilen.

NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt das neue strategische Konzept der NATO vor.
NATO-Gipfel vom 28. bis 30. Juni 2022 in Madrid - NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt das neue strategische Konzept der NATO vor.

Es wird mehrfach betont, dass die NATO ein Werte-Verbund ist, der eng mit den Interessen europäischer Demokratien verwoben ist und maßgeblich von den USA flankiert wird. Betont wird ferner, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist, das jedes seiner Mitglieder zu schützen bereit ist. Derzeit betrifft das vorrangig die Ostflanke der NATO. Kein Wunder also, dass Russland mit vier Punkten die Pole Position in der Feststellung des strategischen Umfeldes einnimmt. Das strategische Konzept listet praktisch alle Felder der seit mehr als sechs Jahren bekannten Felder der hybriden Kriegsführung Russlands auf: subversive Einflussnahme auf europäische Zivilgesellschaften, Desinformation, Cyberangriffe, Störung der Seewege, Abschalten von Gaslieferungen, Erpressung, Ausbau nuklearer Fähigkeiten, Modernisierung und Stationierung von Raketensystemen in der Nähe von Bündnispartnern.

Das Papier bedauert, dass es kaum noch Kontrollvereinbarungen zu nuklearen und konventionellen Waffen gibt - und erst recht keine Transparenz mehr. China, Russland, Nordkorea und der Iran machen einfach ihr eigenes Ding und der Westen hetzt hinterher. Erst Mitte Mai 2022 konnte die US Air Force den Rückstand bei Überschall-Langstreckenraketen schließen. Gleiches gilt für die fortschreitende Digitalisierung sämtlicher Truppengattungen bis hin zum Infanteristen, der bei der Bundeswehr nach und nach mit dem System IdZ (Infanterist der Zukunft) ausgerüstet wird.

Neben Corona, Ukraine und 9-Euro-Ticket fällt das Thema Terrorismus oft durch die Raster der Berichterstattung. So wie der Verfassungsschutzbericht hat auch das strategische Konzept der NATO den Terrorismus im Blick. Dieser muss auf verschiedenen Ebenen verhindert und bekämpft werden. Hier geht der Blick in den Mittleren Osten, nach Nordafrika und in die Sahelregion. Der Ansatz ist eine Stärkung regionaler Sicherheitsstrukturen.

Die NATO ist sich bewusst, dass den modernen, hybriden Bedrohungen auch nur hybrid zu begegnen ist. So sollen die unterschiedlichen militärischen, technischen und medialen Fähigkeiten stärker miteinander verzahnt werden. Das Konzept stellt auf eine stärkere zivil-militärische Zusammenarbeit ab. Damit sollen die Mitgliedsstaaten die nötige Resilienz aufbauen und potenziellen Angreifern "robust" entgegentreten können. Robust, schnell, flexibel und kampfbereit sind die unmissverständlich vorgetragenen Eigenschaften des Verteidigungsansatzes. Vor einem Jahr wären diese Eigenschaften noch spöttisch als fehlerhafte Selbsteinschätzung belächelt worden. Inzwischen dürfte klar sein, dass die NATO diese Eigenschaften auch leben kann.

Entsprechend rau ist der Ton bezüglich hybrider Angriffe, mit denen sich einzelne NATO-Staaten bisher alleine herumschlagen mussten. Nun schwingt der Artikel 5 (Bündnisfall) mit. Russland muss sich nun also sehr genau überlegen, welches Klinikum es per Cyberangriff lahmlegt. Auch bei Atomwaffen hält die NATO dagegen und erklärt sehr deutlich, dass sie über entsprechende Möglichkeiten verfüge und diese nutzen werde, um einem möglichen Gegner die Kosten so sehr in die Höhe zu treiben, dass der Nutzen durch den Aufwand weit übertroffen wird.

Im Abspann des Papiers wird noch einmal die euro-atlantische Sicherheit und Beziehung betont. Es wird auf die Beitrittskandidaten an der Peripherie der NATO und auf die Partnerstaaten im Indo-Pazifik eingegangen. Die internationale Verflechtung bei Klima, Lieferketten und anderen Bereichen ist inzwischen so komplex, dass Antworten nur noch mit umfangreichen Konzeptpapieren skizziert werden können.

Autor: Matthias Baumann