"Und woher weißt du, dass dieses Buch keine Desinformation ist?", hinterfragte meine Frau die Begeisterung über das Buch "Active Measures" von Thomas Rid. Stimmt! Woher sollte ich das wissen? Immerhin geht das Buch selbst auf dicke Bücher ein, die während des Kalten Krieges geschrieben wurden, um die jeweilige Gegenseite bloßzustellen und sogar die körperliche Unversehrtheit genannter Personen zu gefährden.
In einem Seminar hatten wir gelernt, wie man Echtes von Falschem unterscheiden kann. Der Trick sei, dass man sich nicht mit den Facetten des Falschen beschäftigen müsse, sondern lediglich mit dem Echten. Wer mit dem Echten vertraut sei, erkenne jede Fälschung. Als Beispiel wurden Bankangestellte in Skandinavien genannt, die so lange echtes Geld durch ihre Hände gehen lassen, bis sie die Fälschungen bei der leisesten Berührung ausfiltern können. Ein weiterer Punkt, der das Buch vertrauenswürdig machte, war, dass es in der Liste der Literaturempfehlungen der MSC (Münchner Sicherheitskonferenz) aufgeführt war. Zudem wirkte der Inhalt plausibel und mit 54 Seiten für Quellenangaben und Fußnotenerklärungen als gut recherchiert.
Active Measures von Thomas Rid zu Desinformation und Einflussnahme durch fremde Mächte |
Es beginnt während der revolutionären Strömungen um 1920. Lenin konnte uralte Prinzipien der Desinformation auffrischen und an seine Gefolgsleute weitergeben. Dadurch wurden erhebliche Erfolge bei der Schwächung der "Konterrevolution" erzielt. Ein großer Teil widmet sich der Zeit des Kalten Krieges. Wobei zunächst westdeutsche Gruppen und die USA den Informationskrieg befeuerten. Russland, die Stasi, Tschechien und Bulgarien zogen aber schnell nach und perfektionierten im "brüderlichen" Verbund ihre Gegenmaßnahmen. Die Maßnahmen waren in sich geschlossene Projekte, deren Ausgang aber generell ungewiss war. Bis heute lassen sich Active Measures (aktive Maßnahmen) nicht wirklich messen. Eine Erfolgsgarantie kann nicht gegeben werden, da zu viele Akteure beteiligt sind, die größtenteils unwissentlich die Absichten der Auftraggeber ausführen. Je besser die Planung und die Kreativität der Initiatoren, umso sicherer der Erfolg. Das zeigt sich heute beispielsweise an der Trollfarm der Internet Research Agency (IRA) in St. Petersburg, wo die Mitarbeiter unter einem so hohen Leistungsdruck stehen, dass Qualität und Wirkung der "aktiven Maßnahmen" leiden.
Mit Gorbatschow und dem Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren gab es auch eine Pause bei den Desinformationsprojekten. Die USA und andere westliche Staaten waren schon deutlich früher aus den Aktivitäten ausgestiegen und mussten sich regelmäßig vor ihren Parlamenten verantworten. In autoritativ geführten Ländern leben Desinformation und Staat in einer engen Symbiose, so dass es bis zum Scheitern des sozialistischen Modells zu keinen parlamentarischen Nachfragen kam und munter weitergemacht werden konnte. Mit den Veränderungen in der russischen Innenpolitik wurden auch die Geheimdienste umstrukturiert und damit die Desinformationsexpertise reaktiviert. Inzwischen hatte sich auch die Computertechnik weiterentwickelt, so dass sich ganz neue Möglichkeiten der informationellen Einflussnahme boten. So endet das Buch nach etwa 430 Seiten in der Gegenwart und berichtet von generalstabsmäßig durchgeführten Desinformations- und Cyberangriffen, die in engem Zusammenhang mit begleitenden politischen Ereignissen in der Realwelt standen.
Desinformation verfolgt drei wesentliche Ziele: Erstens soll sie den Gegner schwächen, indem sie interne Unsicherheit und Unzufriedenheit schürt. Ferner soll durch Diskreditierung ein Keil zwischen den Gegner und dessen Partner getrieben werden, was in der Folge wieder zu einer Schwächung des Gegners führt. Ein weiteres Ziel kann die Vertuschung eigener Fehler sein. Dazu wird in der Regel das neudeutsche Instrument des Whataboutismus eingesetzt. "What about" stellt die ablenkende Frage nach dem "Und was ist mit dieser ganz anderen Sache?" Als drittes Ziel geht es darum, das eigene Image nachhaltig aufzupolieren. Letzteres wird aber eher als Beifang der erstgenannten Ziele mitgenommen.
Als Werkzeuge dienen frei erfundene Narrative (Erzählungen), die in sich schlüssig sind. Gerne genutzt werden auch Halbwahrheiten, die vorstellbar und theoretisch möglich sind. Oder es werden tatsächliche Wahrheiten verbreitet, die dem Gegner aber extrem peinlich sind und diesen diskreditieren. Die Initiatoren schauen sich die Schwachpunkte der Gegner an, schaffen Ängste, befeuern diese Ängste, ermitteln die Gegner der Gegner und spielen diese gegeneinander aus. Die Chinesen haben dafür einen passenden Spruch: "Mit dem Dolch eines Anderen morden."
Überhaupt wendet der Informationskrieg bewusst oder unbewusst die alte Strategie "Sieg ohne Kampf" an. Der chinesische General Sun Tsu bezeichnete vor 2.500 Jahren den Sieg ohne physischen Kampf als die höchste Kunst des Siegens. Genau das passiert im Krieg per Desinformation. Das Blutvergießen wird auf ein Minimum reduziert und die gegnerischen Gesellschaften in den Köpfen umprogrammiert. Als in der Regel unwissentlich Ausführende werden oppositionelle oder extremistische Gruppen sowie Multiplikatoren wie Wissenschafler, Berater oder Journalisten benutzt. Je nach Ansprache dienen diese als willige Überträger der feindlichen Botschaften. Teilweise simulieren die Auftraggeber auch selbst das typische Wirken oppositioneller oder extremistischer Gruppen. Dabei ist es egal, ob es der eigenen Ideologie widerspricht. Hauptsache, der Gegner wird geschwächt.
Was also tun? Es wird sich wohl kaum vermeiden lassen, am Gefühl für Wahrheit und Lüge zu arbeiten - so wie die skandinavischen Bankangestellten. Ermitteln vertrauenswürdiger Quellen, eigene Korrigierbarkeit, ein gesunder Abstand zu vorgefassten aber nicht bestätigten Meinungen, Achtsamkeit auf kleine Dinge wie Mikrogesten und ein Hören auf das Bauchgefühl können Bestandteile des Resilienzaufbaus sein.
Autor: Matthias Baumann