Gut, dass wir über den Dresscode gesprochen hatten. Im letzten Moment konnte mich meine Frau vom geplanten Anzug abhalten: "Wir besuchen eine Buch-Messe". So definierten wir den neuen
Dresscode Literature. Das bedeutete Hoodie, Jeans, Turnschuhe und Hornbrille. Die Familie zog optisch mit.
Je näher wir der sächsischen Metropole kamen, umso salziger wurde unser Auto. Am Straßenrand Schneeverwehungen. Zehn Kilometer vor Ziel nur noch stockender Verkehr. Alle Zufahrtsstraßen zur Messe waren dicht. "Leipzig liest", stand auf dem Programmheft. Die Verkehrssituation war ein Beweis dafür.
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Winterliche Fahrt zur Leipziger Buchmesse 2018 |
Nach vier Stunden Fahrzeit - davon 90 Minuten für die letzten Kilometer - betraten wir Halle 1. Die gesamte Halle war den Comics gewidmet. Phantasiegestalten, so weit das Auge blicken konnte - und alle Phantasiegestalten
echt. Also echte Menschen in skurrilen Kostümen. Mit viel Liebe und Perfektion hergestellte Umhänge, Zauberstäbe, Helme, Masken, Kleider, Rüstungen, Waffen oder Einhörner. Hingucker wo man auch hinschaute. So manch ein adipöser Körper verschwand unter einem pastellfarbenen Märchenwald oder auffällig gefärbten Haaren. Ganz abgesehen von den unnatürlich geschminkten Gesichtern. Fließende Übergänge zwischen echten Tattoos und reversiblen Körperanbauten.
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Comic-Freunde und Otto Normalleser auf der Leipziger Buchmesse 2018 |
Diese bunte Menge wogte durch Halle 1, kaufte undefinierbare Plüschartikel und blätterte in asiatischen Comics. Da Comics nicht unser Thema waren, schwammen wir mit der Menge weiter zu Halle 3. Halle 3 stellte ein literarisches Kontrastprogramm zu Halle 1 dar. Die bunten Gestalten im
Dresscode Comic vermischten sich hier mit
Otto Normalleser - vorrangig aus Sachsen, wie der Umgangssprache zu entnehmen war. Libri, Ullstein, Die Zeit, ARD oder das Museum für Druckkunst Leipzig stellten hier aus.
In einer Ess-Ecke versorgten wir uns mit Frikadellen, Würstchen und Pommes. Dann ging es weiter durch Halle 3. "Ich mache hier mal ein Foto", waren meine letzten Worte. Danach war die Familie in der Menge verschwunden. Keine Chance: Mobilfunk-Versorgung war so gut wie nicht vorhanden. Hätte ich doch nur den roten statt des schwarzen Hoodies angezogen. Schwarzer Hoodie auf einer Buchmesse, wo jeder in Schwarz, Grau oder gedeckten Farben rumläuft - abgesehen von den Comic-Liebhabern.
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Halle und Menschen am Samstag auf der Leipziger Buchmesse 2018 |
Wir hatten
ein Ziel: Musik-Café A401 in Halle 4. Dort sollte ab 15 Uhr
Itay Dvori auftreten mit Themenschwerpunkt - nun ja, kommen wir später noch einmal darauf zurück. Jedenfalls liefen ständig SMS und Anrufe in Abwesenheit meiner Familie auf und ich erreichte niemanden von ihnen beim Rückruf. So entschloss ich mich zu einer individuellen Erkundung der nächsten Halle: Halle 5.
Neben dubiosen linken Blättern war hier eine Fülle von Selbstdruck-Verlagen anzutreffen. Wenn
BoD nicht schon als Marke für
Books on Demand belegt wäre, könnte man einen Großteil der Anbieter in Halle 5 mit dem Mehrwert
Books on Demand zusammenfassen. Geht aber leider wegen der Markenrechte nicht. Mein Vater hatte sein Buch
"Das letzte Schuljahr" auch
on demand herausgebracht, also Druck bei Bestellung.
Wie ich später erfuhr, muss ich meine Familie immer um Haaresbreite verpasst haben. Das könnte am schwarzen Hoodie oder der Ablenkung durch die Comic-Besucher gelegen haben.
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BoD Books on Demand - Druck bei Kauf - Leipziger Buchmesse 2018 |
Gegen halb drei schwamm ich mit den Besuchern zu Halle 4 hinüber. Endlich gelang der Kontakt zur Familie. Sie warteten bereits am Musik-Café mit der Standnummer A401. das Wiedersehen feierten wir mit Kaffee für 2,90 Euro und Eis. Das Musik-Café war gerade mit einem Gitarristen besetzt. Nach unserer laienhaften Einschätzung beherrschte er sein Instrument. Hinter ihm stand ein schwarzer Flügel - schon wieder Schwarz, so wie mein Hoodie und das T-Shirt darunter und meine Turnschuhe.
Alle weißen Sessel waren besetzt mit gelangweilten Kindern, Omas, verliebten Comic-Fans und weiteren Personen, die sich als Musikliebhaber gerierten. Wir mussten stehen. Nach dem Gitarristen sollte endlich Itay Dvori auftreten. Den Pianisten und Komponisten aus Tel Aviv hatte ich im
Dezember in der Residenz des israelischen Botschafters erlebt und war mit ihm in Kontakt geblieben. Ich vermutete ihn Back Stage und freute mich auf seinen Auftritt. Er intoniert - nun ja, kann man das nach dem Erlebnis von Halle 1 noch sagen? Er intoniert israelische Comics. Jetzt ist es raus.
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Warten auf Itay Dvori - Leipziger Buchmesse 2018 |
Überhaupt gab es in allen Hallen immer wieder Bereiche, in denen Lesungen und Vorträge abliefen. Einige Autoren signierten anschließend ihre Bücher und produzierten damit Warteschlangen, deren Länge sich wohl nach der Bekanntheit richtete. Soweit der Exkurs.
Dann war der Gitarrist fertig und einigen der Musikliebhaber muss eingefallen sein, dass die Uhr ihrer Messezeit tickt. Sie standen auf und wir stürzten uns auf die Sessel. Nach einigem Hin und Her hatten wir sogar vier weiße Sessel nebeneinander und blickten erwartungsvoll auf den schwarzen Flügel. Die Techniker - übrigens in Schwarz - holten sich Kaffee. Kein gutes Zeichen, wie meine Frau bemerkte. Egal, Itay wird wohl gleich auf die Bühne treten. Statt Itay erschien eine Frau, ergriff das Mikrophon und teilte uns mit, dass Itay Dvori auf dem Bahnhof von Halle festsitze. Deutsche Bahn eben im Zusammenspiel mit einem ungeplanten Wintereinbruch.
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Leipziger Buchmesse 2018 - Vielfalt, Kontraste und Druckkunst |
Das war unser Moment - nicht etwa zur Übernahme des Comic-Programms, sondern zum Aufbruch Richtung Halle 2. So verließen wir Halle 4, in der sich einige Länder wie Portugal, Korea oder Israel präsentiert hatten. In Halle 2 trafen wir auf bekannte Schulbuch-Verlage, die Bundesbank oder den Bundestag. Bei Letzterem gab es sogar Sitzgelegenheiten in Bundestagsblau. Nach einem Streifzug über den Stand hatten wir zwei Jutebeutel, einen Kugelschreiber, ein Poster und ein Brillenputztuch mit Bundestagsadler in der Hand.
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Vielfalt und Kontraste auf der Leipziger Buchmesse 2018 |
Das Timing war gut: 16 Uhr. Wir schwammen mit der bunten Menschenmenge durch die Glashalle zurück zur Ausgangsposition Halle 1. Diesmal ging uns eine regelrechte Comic-Prozession voran. Eine
bewaldete Frau mit ihren Jedi-Rittern oder sowas. Beinahe hätte ich ein grünes Männchen in Hulk-Look umgerannt. Uns kamen Comic-Fans mit massiven Augen-Verletzungen entgegen. Wir hofften, dass die nur geschminkt waren. Insgesamt aber echter wirkend als so manche Verletzungs-Attrappe bei Erste-Hilfe-Kursen.
Über den Pressebereich verließen wir die Messe. Die Ausfahrten waren noch relativ frei. So dauerte die Rückfahrt gerade mal zwei Stunden. Dafür war das Scheiben-Waschwasser fast leer.
Autor: Matthias Baumann