Montag, 23. März 2020

US Defender: eine Chronologie und die Vermengung mit Corona

Mit 61,6 Milliarden USD hat Russland den viertgrößten Verteidigungshaushalt der Welt. Das entspricht etwa einem Drittel der chinesischen Ausgaben (181,1 Mrd.) und etwa 9% des US-Budgets. Deutschland, Frankreich und Großbritannien kommen gemeinsam auf 155,6 Milliarden USD. Auch wenn in Westeuropa gerne der Begriff des Kaputtsparens strapaziert wird.

Russlands modernisierte Fähigkeiten

Diese Zahlen sind kaum beunruhigend. Beunruhigender sind die Fähigkeiten, die dahinter stecken. Diese sind nicht 1:1 miteinander vergleichbar. Während der Westen bei Flugzeugen, Drohnen, Helikoptern und Schiffen die Nase vorn hat, glänzt Russland mit Personalstärke, der Anzahl von Panzern und modernisierten Raketensystemen. Letztere haben eine deutlich höhere Reichweite als westliche Systeme und erreichen bemerkenswerte Geschwindigkeiten bis Mach 6 - so wie die 3M22 Zircon Rakete, die gegen Schiffe und U-Boote zum Einsatz gebracht werden kann.

Durch die Annexion der Krim konnte Russland die Reichweite seiner Raketen deutlich verbessern. Der Einstieg in den Syrien-Konflikt bot eine ideale Grundlage zum Test der neuen Waffensysteme. Inzwischen stagniert die Weiterentwicklung, weil der Rubel schwächelt und die Rüstungsindustrie bisher hauptsächlich auf Pump gebaut hatte. Die Gesamtschulden belaufen sich bereits auf 2 Trilliarden Rubel = 30 Milliarden USD. Die Regierung zahlt erst lange nach Auslieferung.

US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope
US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope - Der Inspekteur der Streitkräftebasis #SKB, Generalleutnant Martin Schelleis, nahm an fast allen Presseterminen dabei. Die Journalisten konnten bei vielen Gelegenheiten direkt mit ihm ins Gespräch kommen.
Schnelle Verlegung großer Truppenverbände

Eine weitere Fähigkeit Russlands bereitet der NATO schon seit einigen Jahren Sorgen: die extrem schnelle Verlegung großer Truppenverbände. Das hatte die NATO letztmalig vor dem Fall der Mauer geübt und dann völlig aus dem Fokus verloren. Mit US Defender Europe 20 sollte das mal wieder geübt werden. Wichtigstes Transitland sollte Deutschland darstellen. Fahrzeuge und Gerätschaften der US-Streitkräfte sollten per Schiff in Europa eintreffen und die US-Soldaten per Flugzeug. Dann sollten die Fahrzeuge und Soldaten durch Deutschland reisen und letztlich in Polen eine Abschlussübung absolvieren. Eine kleinere Übung mit etwa 5.000 Soldaten war für die Region Bergen geplant.

10. Oktober 2019

Die Zahl der Beteiligten sollte im Verlauf der Übung auf 37.000 ansteigen und auf polnischem Territorium ihren Höhepunkt erreichen. Da es sich vorrangig um eine logistische Übung handelte, war auf deutscher Seite die Streitkräftebasis SKB dafür zuständig. Der Inspekteur der SKB, Generalleutnant Martin Schelleis, äußerte sich bereits Mitte Oktober 2019 begeistert über die Möglichkeit dieser Übung. Deutschland werde als Host Nation für die Anlandung und den Transit nach Polen dienen. Von Corona war damals noch keine Rede.

31. Dezember 2019

Am Silvestertag 2019 informierte China die Weltgesundheitsorganisation WHO über das Corona-Virus. Bis zur Münchner Sicherheitskonferenz MSC Mitte Februar 2020 schien das Virus nur China zu betreffen. Deren Außenminister Wang Yi sang damals Lobhymnen auf das "überlegene System" Chinas, das das Corona-Problem so heldenhaft in den Griff bekommen habe.

14. Januar 2020

Am 14. Januar 2020 gab es in Berlin eine größere Pressekonferenz zu US Defender. Die Medien interessierten sich hauptsächlich für die Auswirkungen auf den Straßenverkehr. Die Generale Schelleis und Rohling beantworteten alle mehr oder weniger wichtigen Fragen mit Kompetenz und Geduld. Nur eine Frage konnte nicht beantwortet werden: Was kostet die Übung?

Den Generalen war wichtig, dass eine möglichst hohe Transparenz gewahrt wird. So wurden explizit auch Medien der gegnerischen Kräfte eingeladen. Zudem wurden sämtliche Schwellenwerte des Wiener Dokumentes von 2011 (OSZE) unterschritten. Insbesondere in den Punkten 67.1 und 67.2 sind die Übungsintervalle und Personalstärken nachzulesen. 

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US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope - Eine Übung zum Anfassen und Mitfahren: Die Streitkräftebasis #SKB legte Wert auf Transparenz.
23. Januar 2020

Zu den Presseterminen im Rahmen von US Defender konnten sich neben Berufsjournalisten auch Betreiber kleinerer YouTube- und Social-Media-Kanäle anmelden. Vor Ort herrschte Chancengleichheit. Jeder durfte mit dem Inspekteur der SKB reden und seine Fragen loswerden. Auf Wunsch wurden sogar Sonderprogramme mit Journalisten durchgeführt.

Am 23. Januar 2020 wurde unter den Augen der Presse eine Zeltstadt in Garlstedt bei Bremen aufgebaut. Die Arbeit der Spezialpioniere konnte begutachtet werden und die verantwortlichen Offiziere standen für Fragen zur Verfügung.

1. Februar 2020

Die Luftwaffe holte am Wochenende um den 1. Februar 2020 etwa 100 Deutsche aus dem Corona-Gebiet in China zurück. Die Initiative hatte das Auswärtige Amt übernommen und die Bundeswehr um Hilfe gebeten. Der mattgraue A310 mit der Kennung 10+23 fliegt normalerweise VIPs oder das Wachbataillon zu ihren Zielorten.

12. Februar 2020

Am 12. Februar 2020 fand der zweite Pressetermin im eigentlichen Geschehen statt. Die Schiffe aus den USA waren noch nicht eingetroffen. Deshalb wurden in Bergen bei Celle Fahrzeuge auf Schwerlasttransporter verladen, die die Amerikaner ohnehin in Europa gelagert hatten. Eine Zugladung voll Humwees und eine Zugladung voll Panzer und Haubitzen wurde an diesem Tag bewegt. Zudem wurde der Aufbau eines Tanklagers gezeigt.

21. Februar 2020

Am 21. Februar 2020 gab es zwei weitere Pressetermine. In Bremerhaven traf das erste Schiff aus Amerika ein. Es enthielt viele sandfarbene Panzer. Auch hier war der Inspekteur SKB anwesend und konnte ohne vorherige Abstimmung der Fragen konsultiert werden. Bereits am Morgen waren in Hamburg US-Soldaten eingeflogen worden. Für den gemeinen Hauptstadtjournalisten wäre Viertel nach sechs viel zu früh gewesen. Von den regionalen Pressekollegen wurde der Termin aber gerne genutzt.

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US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope - Sandfarbene US-Fahrzeuge als Übungsmaterial für das Logistikmanöver US Defender.
26. Februar 2020

Am 26. Februar 2020 war das zweite Schiff aus den USA in Bremerhaven eingetroffen. Dieses enthielt fast nur unbewaffnete LKWs und Humwees. Sandfarbene Fahrzeuge soweit das Auge reichte. In Ausstattung, Lackierung und Zustand waren die Fahrzeuge kaum für die Austragung eines konventionellen Konfliktes geeignet. Ein wichtiger Beweis dafür, dass es sich bei US Defender vorrangig um eine logistische Übung handelte. An jenem Abend wurden vier Konvois zusammengestellt und Richtung Hagenow geleitet. Verkehrstechnisch lief das völlig reibungslos ab.

10. März 2020

Anfang März kündigte Frank-Walter Steinmeier über die Presseabteilung der SKB seinen Besuch bei US Defender in Bergen an. Das Programm sollte in etwa dem vom 12. Februar 2020 entsprechen. Dem Bundespräsidenten wird regelmäßig unterstellt, dass er sich nicht für die Bundeswehr interessiere. Das entspricht nur bedingt den Tatsachen. Wer Zugriff auf die Flugbereitschaft des BMVg hat, ist mit dem Hubschrauber (Cougar) nur eine Stunde zwischen Berlin und Bergen unterwegs.

12. März 2020

Am Nachmittag des 12. März 2020 wurde der Besuch des Bundespräsidenten für den 17. März 2020 in Bergen abgesagt. Grund: Corona-Virus. Eine halbe Stunde später traf ein weiteres Mail ein, worin die Entscheidung des US-Hauptquartiers USAREUR mitgeteilt wurde, dass die an US Defender beteiligten US-Soldaten wegen Corona reduziert werden. Zur deutschen Beteiligung an der Übung gab es zu dem Zeitpunkt noch keine weitere Entscheidung.

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US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope - Der Inspekteur der Streitkräftebasis #SKB, Generalleutnant Martin Schelleis, nahm an fast allen Presseterminen dabei. Die Journalisten konnten bei vielen Gelegenheiten direkt mit ihm ins Gespräch kommen.
13. März 2020

Am 13. März 2020 wurden "alle US-Truppenbewegungen faktisch ausgesetzt". In einer Pressemitteilung der SKB hieß es weiter: "Es werden absehbar keine weiteren Schiffe in Belgien und den Niederlanden entladen, noch weitere Soldaten auf deutschen Flughäfen eingeflogen." Die meisten Truppenteile hätten ohnehin schon ihre Zielorte erreicht. Am Abend desselben Tages kam die Info, dass die Bundeswehr ihre Beteiligung an der Übung in Bergen-Munster abgesagt habe. Diese Übung hätte mit insgesamt 5.000 Soldaten zwischen dem 16. und 30. April 2020 dort stattfinden sollen. Das war eine einseitige Entscheidung der Bundeswehr. Die NATO-Partner hatten sich noch nicht dazu geäußert.

16. März 2020

Am 16. März 2020 wurden die Übungsanteile von US Defender in Deutschland beendet. Laut Presseabteilung der SKB waren die "mit der Verlegung umfangreicher alliierter Kräfte verbundenen Ausbildungsziele" bereits erreicht worden. Die weiteren Übungsanteile auf Truppenübungsplätzen wie Bergen "entfallen". Damit war US Defender in Deutschland offiziell vorbei.

20. März 2020

Durch die vorzeitige Beendigung von US Defender waren die Kräfte der SKB wieder frei für andere Aufgaben. Als Logistikprofis werden sie in der näheren Zukunft für die Koordination der Maßnahmen gegen Corona gebraucht und haben dazu auch schon diverse "Hilfeleistungsanträge" bekommen.

Russland erklärt die Welt

Eine letzte große Fähigkeit Russlands besteht in der Produktion von Desinformationen und Fake News. Das beginnt beim inländischen Umgang mit Corona: In Russland gibt es offiziell gar kein Corona. Die Leute sterben dort höchstens an Lungenentzündungen. Sollte Corona irgendwann nicht mehr zu vertuschen sein, stehen die Schuldigen schon fest: USA, NATO, EU und US Defender. Je nach Zielgruppe bedient sich Russland unterschiedlicher Narrative (Erzählungen). Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope
US Defender Europe 20 #DEF20 #DefenderEurope - Logo der Übung mit flammendem Schwert in Anlehnung an das Wappen der U.S. Army Europe
Wer die USA mag, aber die Bundesregierung hasst, bekommt das Narrativ, dass während US Defender die amerikanischen Soldaten nach Berlin marschieren und Deutschland von der Bundesregierung befreien. Wer die USA nicht mag, bekommt das Narrativ, dass Corona durch den Westen inszeniert sei, um heimlich weitere US-Truppen in Europa zu stationieren. Diese sollen dann einen Bürgerkrieg niederschlagen. Vermengt wird das Ganze noch mit pseudoreligiösen Theorien über den Erzengel Michael mit seinem flammenden Schwert. Letzteres wurde ihm erst in der Kirchengeschichte angedichtet und hat keine biblische Grundlage. In Zeiten der Politikverdrossenheit, vieler verbaler und thematischer Tabus seitens der politischen Korrektheit und des sonstigen ideologischen Vakuums finden diese Geschichten in Mitteleuropa viele offene Ohren. Russland hat also freie Bahn, die freiheitlich-demokratische Grundordnung effektiv von innen zu zersetzen.

Das strategische Ziel Russlands ist ein Keil zwischen Europa und den USA, ein Keil innerhalb der NATO sowie eine Zersplitterung der Länder und Gesellschaften Europas. Nur so kann sich Russland als potenter Player auf der geostrategischen Bühne zurückmelden. Dass die USA Russland nur als kleinen nervenden Störer im Primärkonflikt mit China ansehen, wurde auf der MSC sehr deutlich. In den Reden der amerikanischen Spitzenpolitiker wurde Russland nur in Nebensätzen erwähnt.

Autor: Matthias Baumann