Donnerstag, 15. Dezember 2022

Aussagekräftiges Lagebild zu den aus der Ukraine geflüchteten Menschen

Endlich liegen belastbare Zahlen vor. In der Bundespressekonferenz wurde heute die Studie "Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland - Flucht, Ankunft und Leben" vorgestellt. Diese basiert auf einer Befragung von 11.225 Ukrainern im Alter zwischen 18 und 74 Jahren. Das entspricht mehr als 1% der ab dem 24. Februar 2022 nach Deutschland geflüchteten Ukrainer. Durch die Anzahl der Teilnehmer und verschiedene Plausibilitätsprüfungen ist die Qualität der Befragung sehr hoch und entsprechend repräsentativ. Um das Vorhaben niederschwellig zu gestalten, wurden die Fragen auf Ukrainisch oder Russisch gestellt. 93% der Teilnehmer möchten auch an der nächsten Befragung teilnehmen.

Die Studie beleuchtet die verschiedenen Aspekte des Ankommens und Lebens in Deutschland. Um das möglichst kompetent abbilden zu können, haben sich das DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), das IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung), das BAMF-FZ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) sowie das BiB (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) zusammengetan.

Das Fluchtmotiv ist eindeutig der Krieg in der Ukraine. Zwei Drittel stammen aus den unmittelbaren Kriegsgebieten. Geflohen sind hauptsächlich Frauen mit Kindern. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren. Die wenigen Männer sind entweder Senioren, sind direkt nach Kriegsbeginn ausgereist oder wurden aus sozialen Erwägungen von der Einberufung freigestellt.

Die befragten Ukrainer verfügen über ein außergewöhnlich hohes Bildungsniveau, das jedoch nur teilweise mit deutschen Bildungswegen vergleichbar ist - insbesondere, was das duale Ausbildungssystem betrifft. Intelligenz und Motivation machen sich jedoch durch schnelles Erlernen der deutschen Sprache bemerkbar. Sprachkompetenz ist ein entscheidender Schlüssel für den Einstieg am Arbeitsmarkt. Der Fachdeutsche spricht von "Wertsteigerung des Humankapitals". Auf Nachfrage wurde bestätigt, dass es durch ukrainische Fachkräfte keine Verdrängungsmechanismen gäbe. Ganz im Gegenteil: Damit Deutschland seinen Fachkräftebedarf halte, sei ein jährlicher Nachschub von 400.000 Kräften notwendig. Die aktuell zugezogenen Ukrainer decken gerade einmal 300.000 ab. Viele davon möchten ohnehin wieder zurück in ihre Heimat. Je nach Zukunftsplanung lernen sie dann schneller Deutsch und integrieren ihre Kinder im Bildungssystem. Viele der Kinder gehen in deutsche Schulen und absolvieren zusätzlich ukrainischen Online-Unterricht.

Wer Deutschland als Fluchtort wählt, hat hier bereits Verwandte oder Bekannte. Die persönliche Beziehung spielt eine sehr große Rolle. Das ist wohl auch der Grund, warum nur 9% in Massenunterkünften leben und 74% in privaten Wohnungen. Dass eine Vielzahl der Ukrainer ihren Wohnsitz selbst wählt, zeugt von einer hohen Resilienz gegenüber der Situation und dient gleichzeitig der schnellen Integration in die deutsche Gesellschaft und den Arbeitsmarkt. Laut IAB haben Marktanalysen ergeben, dass auch die Fluchtbewegungen von 2015 die Beschäftigung in Deutschland belebt hätten.

Die Experten machten jedoch klar, dass es in erster Linie um den humanitären Aspekt gehe und das Thema Fachkräfte erst an zweiter Stelle stehe. So sei das Trauma des Krieges mit Flucht, Trennung, Verwundung und Tod aktiv zu bearbeiten. Zudem sei auf die eingeschränkten Möglichkeiten alleinerziehender Mütter einzugehen. Um die Zahlen der Studie zusammenzufassen: Die Ukrainer stellen eine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft und die deutsche Wirtschaft dar. Sie sind gebildet, bringen Berufserfahrung mit, sind jung, nehmen Unterstützung gerne an und bemühen sich um eine schnelle Integration.

Autor: Matthias Baumann

Samstag, 10. Dezember 2022

Bundespräsident informiert sich im Einsatzführungskommando über die Lage vor Ort und das Wohlergehen der Soldaten

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Gattin, Elke Büdenbender, waren gut vorbereitet, als sie in den Konferenzraum traten. Auf der großen Leinwand flimmerten schon die Direktübertragungen aus vier Einsatzgebieten: MINUSMA in Mali, IRINI im Mittelmeer, UNMISS im Südsudan und eFP Battle Group in Litauen.

Jeweils drei Soldaten unterschiedlicher Dienstgrade repräsentierten die Kontingente. Neben dem Präsidentenpaar hatte der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos, Generalleutnant Bernd Schütt, Platz genommen. Er stellte kurz die vier Einsätze vor und übergab dann das Wort an den Präsidenten. Vierzig Minuten hatte er sich Zeit genommen, um aus erster Hand zu erfahren, wie die Lage vor Ort aussieht und wie die lange Abwesenheit mit den familiären Gegebenheiten harmoniert.

Bundespräsident informiert sich im Einsatzführungskommando über die Lage vor Ort und das Wohlergehen der Soldaten
Bundespräsident informiert sich im Einsatzführungskommando über die Lage vor Ort und das Wohlergehen der Soldaten - Videoleinwand mit Soldaten aus vier Einsatzkontingenten

Zuerst wandte er sich an die Besatzung des U-Bootes U35 im Mittelmeer. Diese hat zurzeit Landgang, der rege für die Kontakte in die Heimat genutzt wird. Der Bundespräsident hatte das U-Boot bereits besucht, so dass es geeignete Anknüpfungspunkte mit persönlicher Note gab. Er und seine Frau wollten wissen, wie die Soldaten mit Kleinkindern die lange Einsatzzeit handhaben und was sie nach ihrer Heimkehr machen werden.

Zum Einsatzkontingent in Litauen hat er nicht nur deshalb eine persönliche Beziehung, weil er bereits zweimal dort war, sondern auch, weil er in der Nähe des Heimatstandortes Augustdorf geboren wurde. Die Enhanced Forward Presence Battle Group erlebt zurzeit die 12. Rotation. Dreiviertel der Kräfte halten zu Weihnachten die Stellung, während ein Viertel "nach sozialen Erwägungen" in den Heimaturlaub entlassen wurde. Die in Litauen verbliebenen Kräfte würden sich dennoch schöne Festtage mit Weihnachtsmarkt und ähnlichem machen. Frank-Walter Steinmeier wollte wissen, wie es um die angespannte Situation bei den Unterkünften bestellt sei. Die Litauer arbeiten auf Hochtouren an der Fertigstellung. Überhaupt seien die Litauer froh, glücklich und dankbar für die NATO-Präsenz. Das spüre man dort auf Schritt und Tritt. Das nimmt der Bevölkerung auch die Angst vor den benachbarten Russen. Der Bundespräsident fragte, welche Auswirkungen der russische Angriff auf die Ukraine im Selbstverständnis der Soldaten habe. Darauf wurde ihm berichtet, dass den Soldaten die Wichtigkeit ihres Auftrages ganz neu bewusst geworden sei. Sie denken nun konkret vom scharfen Ende (Tod und Verwundung) des Berufes her. Letztlich sei dadurch nur die Entschlossenheit und Professionalität gesteigert worden.

Bundespräsident informiert sich im Einsatzführungskommando über die Lage vor Ort und das Wohlergehen der Soldaten
Bundespräsident informiert sich im Einsatzführungskommando über die Lage vor Ort und das Wohlergehen der Soldaten - links: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, rechts: Generalleutnant Bernd Schütt

Auch in Mali bei MINUSMA wird es einen Weihnachtsmarkt geben. Etwas überraschend war deren Information, dass die Bevölkerung nach wie vor wohlwollend auf die Bundeswehr reagiere und auch mit dem militärischen Personal der Region weiterhin eine professionelle Zusammenarbeit möglich sei. Das Problem stelle lediglich die Regierung dar, die derzeit den wichtigen Mehrwert Drohnenaufklärung unterbinde.

Diplomatisch anspruchsvoll ist der Beobachtungseinsatz UNMISS im Südsudan. Dort sind Soldaten aus 52 Nationen zu koordinieren. Der Auftrag ist die Verhinderung einer humanitären Katastrophe. Das Land hat etwa 11 Millionen Einwohner, von denen acht Millionen durch Hunger bedroht sind. Es herrscht ein Höchstmaß an Korruption, Willkür und stammesbezogener Rechtsprechung. Die Soldaten der Bundeswehr seien in Deutschland bereits gut auf das Land vorbereitet worden, so dass im Tagesgeschäft die antrainierten Mechanismen bei der mentalen Bewältigung des Erlebten greifen können. Militärbeobachter greifen nicht aktiv in das Geschehen ein, sondern sie dokumentieren, was sie sehen. Für Schlussfolgerungen und Entscheidungen ist dann der Auftraggeber UNO zuständig. Dennoch vernetzen sich die UNMISS-Soldaten mit Hilfsorganisationen und koordinieren entsprechende Maßnahmen.

Die Sollmannschaft eines Einsatzkontingentes liegt bei 70%. Das heißt, dass 30% der Soldaten mit Kleinkindern oder anderen familiären Verpflichtungen über Weihnachten beurlaubt werden können. Was die Akzeptanz in der Bevölkerung angeht, ist diese bei der eFP Battle Group und bei IRINI am höchsten, da diese Einsätze direkt vor der Tür agieren. Die eFP Battle Group ist zudem ein Instrument der Landes- und Bündnisverteidigung und bedarf keines gesonderten Mandates des Bundestages. IRINI, MINUSMA und UNMISS bedürfen des Bundestagsmandates und rangieren in jüngsten Umfragen bei Zustimmungswerten zwischen 78% und 60%.

Gegen 13 Uhr verließ das Präsidentenpaar das Einsatzführungskommando. Schnell wurden noch Selfie-Wünsche erfüllt. Dann klappten die Türen und die schwarzen Limousinen rollten vom Gelände. Insgesamt zwei Stunden war der Bundespräsident in Schwielowsee und hatte die Zeit auch genutzt, um in kleiner Runde mit dem Befehlshaber und den dortigen Soldaten zu reden.

Autor: Matthias Baumann

Video: Bundespräsident besucht Einsatzführungskommando am 10.12.2022

Freitag, 2. Dezember 2022

Berlin Security Conference 2022 mit Fokus auf den hohen Norden

Nun konnte die Berlin Security Conference (BSC) endlich wieder ohne lästige Corona-Maßnahmen wie Tests, Masken, Abstandsregeln und Abwesenheit der üblichen Teilnehmer stattfinden. Die Industrie hatte wieder ihre Stände aufgebaut, Militärattachés unterhielten sich an den Stehtischen, Bundeswehroffiziere tauschten sich über ihre neuen Dienstposten aus und Verteidigungsminister gaben sich im großen Saal die Klinke in die Hand. Sogar Bundeskanzler Olaf Scholz, Norwegens Premierminister Jonas Gahr Store, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielten Reden. Scholz, Store und Stoltenberg stellten sich dann sogar noch den Fragen des Veranstalters und des Publikums. Der große Saal war bei diesen Programmpunkten so voll, dass viele Zuschauer stehen mussten.

Berlin Security Conference 2022 #BSC22
Berlin Security Conference 2022 #BSC22 - Militärattachés und Stände der Industrie

Leer war der Saal hingegen, als der ungarische Verteidigungsminister Kristof Szalay-Bobrovniczky auftrat. In seiner sehr kurzen Rede legte er dar, wie wichtig Ungarn für die europäische Waffenindustrie sei, wie viel Ungarn nach Deutschland exportiere und dass Ungarn andere Standpunkte vertrete, wie die aktuellen Herausforderungen zu lösen seien. Danach verließ er schnell und breit grinsend den Saal. Mit seiner Russland-freundlichen Haltung stand Ungarn allein bei der BSC. In sämtlichen Reden, Podiumsdiskussionen und themenspezifischen Panels war man sich in der Behandlung Russlands als erstzunehmender Aggressor einig.

Neben der transatlantischen Verbundenheit lag der Fokus auch auf der Nordosterweiterung der NATO durch Finnland und Schweden. Norwegen fungierte als einer der Sponsoren der BSC 2022 und war ebenfalls sehr präsent. Das begann mit dem Munitionshersteller Nammo und endete bei hochrangigen Offizieren und Ministerpräsident Store. Auch Jens Stoltenberg ist Norweger, wobei er hier in NATO-Funktion erschienen war. Die neuen NATO-Mitglieder sehen sich selbst als Bereicherung für das Bündnis. Sie bringen zwar weit über 1.000 Kilometer neue Grenze zu Russland mit, können aber auch liefern: gesamtgesellschaftliche Resilienz, Erfahrung bei der Abwehr hybrider Angriffe aus Russland und Bewährung in extremen klimatischen Bedingungen. Letztere stellen diese Länder seit Jahren für NATO-Trainings zu Verfügung. Die Bevölkerung zeigt sich sehr kooperativ, da sie den sicherheitspolitischen Wert des Bündnisses schätzt.

Berlin Security Conference 2022 #BSC22
Berlin Security Conference 2022 #BSC22 - Diskussionsrunde mit den Chefs der Streitkräfte - von links nach rechts: Vizeadmiral Haggren (Schweden), General Kivinen (Finland), General Kristoffersen (Norwegen), Moderator Ben Hodges, General Lentfer (Dänemark), Admiral Lebas (Frankreich)

Schweden baut derzeit den strategisch wichtigen Punkt Gotland aus. Wer Gotland kontrolliere, kontrolliere die Ostsee. Zudem könne Gotland dreidimensional - also von Land, von See und aus der Luft - verteidigt werden. Finnland macht sich Sorgen um die demilitarisierten Zonen im Nordmeer. Diese müssen im Ernstfall verteidigt werden. Norwegen fährt seine Landesverteidigung auf den Stand des Kalten Krieges hoch und erwartet, dass der neue Kalte Krieg sehr lange dauern werde. Dänemark beschäftigt sich mit dem sehr neuen Thema "Sea Bed Warfare" - Kriegsführung auf dem Meeresgrund. Derzeit wisse man noch viel zu wenig darüber und müsse sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Die Länder des Nordens sehen den Krieg in der Ukraine auch als ihr Kampffeld an. So sei es jetzt wichtig, die Grundbedürfnisse der ukrainischen Soldaten zu erfüllen: warme Kleidung, frisches Wasser, kompetente Führungspersonen mit dem Gespür für das Wohlergehen der Truppe.

Ganz in ihrem Element waren die Drei- und Viersterner auf der BSC. Sie analysierten und diskutierten Lösungen. Ständig wurde C4 eingeworfen: Command, Control, Communication, Computer (Führung, Lagebildprüfung, Kommunikation und IT). Wo immer westliche Technologie auftauche, seien russische Systeme hilflos unterlegen. Überhaupt habe Russland sich selbst massiv überschätzt und den Gegner unterschätzt. Dennoch könne man sich darauf nicht ausruhen, da auch Russland aus seinen taktischen Fehlern lerne. So müsse laut Admiral Rühle mit "Presence, Speed and Rage" (Präsenz, Geschwindigkeit und wütender Entschlossenheit) reagiert werden. Ähnlich konkret ging es im Panel der Vier Heeres-Chefs von Litauen, Niederlanden, Deutschland und Frankreich zu. Die Weichen seien gestellt und Dinge teilweise schon umgesetzt wie die gegenseitige Unterstellung von deutschen und niederländischen Einheiten. Es müsse jetzt noch mehr als bisher gemeinsam trainiert werden. Das Mindset (Denkstrukturen) müsse aufeinander justiert werden und auch die Technik müsse interoperabler werden. Der anwesende Thales-Vertreter warf dazu ein: "Wir können, wenn wir sollen." (We can, if we have to.)

Berlin Security Conference 2022 #BSC22
Berlin Security Conference 2022 #BSC22 - Panel zu Landstreitkräften - von links nach rechts: Generalleutnant Martin Wijnen (Chef des Heeres der Niederlande), Generalleutnant Alfons Mais (Inspekteur des Heeres, Bundeswehr), Generalleutnant Pierre Schill (Chef des französischen Heeres)

Eine große Herausforderung sah Generalleutnant Mais in der Mobilität. Ein ganz brisantes Thema, das in Deutschland mit auf der Straße klebenden Jugendlichen und Verkehrsflächenrückbau in ein vorindustrielles Zeitalter zurückgefahren werden soll. Laut General Mais ist "Mobilität eine der Schlüsselfähigkeiten der Land-Domain". So bringe es nichts, wenn wir das Material zwar haben, dieses aber nicht an den Einsatzort transportieren können. Das sah auch General Wijnen aus den Niederlanden so. Vorbereitung auf einen eventuellen Ernstfall sei extrem wichtig. Der französische General Pierre Schill setzte seinen Akzent bei der Transparenz des Kampffeldes. Durch künstliche Intelligenz, Satellitenfotos und Geodaten solle ein ständig aktualisiertes Lagebild zur Verfügung stehen, welches dann in effektive Kampfszenarien umgesetzt werden könne.

Etwas unkoordiniert wirken die Worte des Bundeskanzlers im Vergleich zu seinem Handeln. Während er auf der BSC das Engagement Deutschlands für die Ukraine lobt und sich klar zur nuklearen Abschreckung, dem europäischen Flugabwehrschirm, mehr Übungen, der Beistandspflicht sowie zu einer strategischen und mentalen Zeitenwende bekennt, ruft er im nächsten Moment bei Putin an und informiert ihn über den Standpunkt der NATO. Als ob sich Putin durch devote Ansprachen beeindrucken ließe. Möglicherweise war das ein Versuch des Bundeskanzlers, den mehrfach auf der Konferenz geäußerten Wunsch nach deutscher Führungsverantwortung zu erfüllen.

Autor: Matthias Baumann