Freitag, 8. Juli 2022

Kritische Bestandsaufnahme als Fortführung der Eckpunkte für die Zukunft der Bundeswehr

"Kritische Bestandsaufnahme" klingt erst einmal nicht so charmant wie der Begriff "Eckpunkte". Jedoch hatten es schon die vor einem Jahr veröffentlichten "Eckpunkte für die Zukunft der Bundeswehr" in sich. Besonderes Missfallen erregten sie beim Sanitätsdienst und in der Streitkräftebasis. Die Pläne zur strukturellen Umverteilung stießen bei den betroffenen Einheiten nur auf bedingte Gegenliebe. Besonders die Dienstgrade mit Laub und Sternchen auf der Schulter waren wenig erfreut über die drohende Aufgabe ihres schon lange als redundant angesehenen Standortes in Bonn. Die Wege waren kurz. Das Häuschen war abgezahlt. Die Familie lebte glücklich und zufrieden fernab vom städtischen Getümmel.

Zittern bei Sanitätsdienst und Streitkräftebasis

Beim Sanitätsdienst hatte man sich schnell auf kurzem Wege über Lösungen verständigt, die für alle gangbar waren. Besonders hartnäckig kämpfte fortan die SKB (Streitkräftebasis) um ihre Daseinsberechtigung. Die Flutkatastrophe im Ahrtal und die Corona-Pandemie verschärften das noch. Dem Nationalen Territorialen Befehlshaber, Generalleutnant Martin Schelleis, der gleichzeitig als Inspekteur der Streitkräftebasis fungierte, wurde plötzlich durch den operativen Teil, dem Kommando Territoriale Aufgaben (KdoTA), die Show gestohlen. Auch wenn Martin Schelleis immer wieder präsent war, konnte er sich doch kaum gegen das mediale Interesse an Generalmajor Carsten Breuer durchsetzen. Dieser bekam den inoffiziellen Titel "General Amtshilfe" und wurde sogar in den Krisenstab des Kanzleramtes berufen.

Wenn die Truppe die Ministerin führt:

Wie groß war die Erleichterung, als Annegret Kramp-Karrenbauer ihr Büro im Verteidigungsministerium räumen musste und die Eckpunkte auf Eis gelegt wurden. Die Entspannung war jedoch nur von kurzer Dauer. Die hilflos wirkende Amtsnachfolgerin wurde bereits Mitte Dezember 2021 bei ihrem ersten Truppenbesuch auf die verheerenden Lücken in der Ausrüstung hingewiesen. Hier zeigten sich der Inspekteur der Streitkräftebasis und seine Soldaten vom Logistikbataillon 172 Beelitz didaktisch äußerst clever. Die Ministerin wurde zunächst an einem uralten, schon halb verrosteten Pritschenwagen vorbeigeführt. Davor stehen bleibend wurde ihr das Thema Ersatzteile und Materialversorgung nahe gebracht. Nachdem ihrem Munde das Wort "Oldtimer" entglitten war, konnten die Kommandeurin und der Inspekteur sicher sein, dass sie die Botschaft verinnerlicht hatte. Dann ging es sofort weiter mit dem Dauerbrenner Lochkoppel. Auch das wurde genüsslich zelebriert und erst anschließend zu den moderneren und unkritischen Stationen des statischen Displays geschlendert.

Territoriales Führungskommando  in Berlin

Christine Lambrecht musste in den folgenden Wochen noch so einige Mitfahrten und Mitflüge über sich ergehen lassen. Die Truppe kannte kein Pardon und stopfte die Ministerin in den NH90, in den A400M oder in den Boxer. Das führte zwar nicht zu einer Enteisung des Eckpunkte-Papiers, dafür aber Ende Januar 2022 zum Start der "kritischen Bestandsaufnahme". Und wieder wurde es in der Streitkräftebasis unruhig. Dass diese Unruhe berechtigt war, zeigt die Entscheidung vom 13. Juni 2022, ein Territoriales Führungskommando (TerrFüKdoBw) in Berlin aufzustellen. Diese neue Dienststelle soll im Oktober 2022 an den Start gehen und sämtliche Aktivitäten der Bundeswehr mit nationalem, territorialem Bezug steuern. Dem Befehlshaber des TerrFüKdoBw werden die Aufgaben des Nationalen Territorialen Befehlshabers übertragen. Dem Kommando werden die Landeskommandos, die Heimatschutzkräfte, das Zentrum für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit, die deutschen Anteile des NATO Joint Support and Enabling Command (JSEC) und des multinationalen Kommandos Operative Führung (MNKdoOpFü) unterstellt. Das TerrFüKdoBw wird auch kein eigener Organisationsbereich mehr sein, sondern direkt unter dem Ministerium angesiedelt. Zuständig ist dort der stellvertretende Generalinspekteur - aktuell Generalleutnant Markus Laubenthal.

Zentrales Thema Landes- und Bündnisverteidigung

Als roter Faden zieht sich das Thema LV/BV (Landes- und Bündnisverteidigung) durch das Papier. Christine Lambrecht hatte sich schon sehr frühzeitig die Optimierung des Beschaffungswesens auf die Fahnen geschrieben. So wolle man europäischen Partnern bei der entspannten Auslegung von Beschaffungsregeln folgen und nicht mehr die exklusiv für die Bundeswehr entwickelte Goldrandlösung in Auftrag geben. Pragmatismus und schnelle Verfügbarkeit sind Gebote der Stunde - getrieben von den Zielgedanken der "Kaltstartfähigkeit" und der "Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr". Die Wehrbeauftragte, Dr. Eva Högl, macht der Ministerin auch regelmäßig deutlich, wie es um die Ausstattung der Truppe steht. Wer kann sich schon der Argumentation einer kompetenten Berufs- und Parteikollegin entziehen?

Die acht Seiten der "kritischen Bestandsaufnahme" machen deutlich, dass es sich hier nicht um ein Werk für die Schublade handelt. Einige der Punkte wurden bereits umgesetzt oder befinden sich in unmittelbarer Umsetzung. Der Gesamtprozess dieser Betrachtung soll im Dezember 2022 abgeschlossen sein. Eine kritische Zwischenbilanz ist für September 2022 geplant - in der Hoffnung, dass die Bundeswehrtagung nicht wieder durch eine Pandemie gestört wird. Der Störer Russland hat jedenfalls dazu beigetragen, dass viele überfällige Prozesse in der Bundeswehr signifikant beschleunigt wurden.

Autor: Matthias Baumann