"Diese Schuhe werden staubig, sehr staubig", ein breites Grinsen lag auf dem Gesicht von Presseoffizier Ingo Prieß. Zum gestrigen Termin in Gardelegen war ein Dresscode empfohlen, der bei protokollarischen Anlässen für Irritationen sorgen würde: "Wetterfeste Kleidung und festes Schuhwerk".
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Teilnermer vor Rathaus und Fahnen: Deutschland, Niederlande, Norwegen, NATO (v.l.n.r.) |
Der Aufenthaltsraum füllte sich mit Zivilisten: B.Z. BILD,
augengeradeaus.de und diverse große Regionalsender trafen nach und nach ein. Mit Kameras, ohne Kameras, mit Plüschmikrofonen und Notizbüchern. Kaffee und Brötchen standen bereit, denn
ohne Mampf kein Kampf. Zwei Reisebusse warteten vor dem Haus. Wir sollten uns anschnallen.
Kaum hatten die Busse die Tore der Altmark-Kaserne passiert, verließen sie auch die befestigten Wege. Staub umhüllte uns. Ab und zu waren Büsche, kleine Wäldchen und tief durchfurchte Wege aus Zuckersand zu erkennen. Als sich der gelbe Nebel etwas gelichtet hatte, kam ein markanter Hügel zum Vorschein. Drei Geländewagen parkten vor dem Zugang zum Berg. Der künstliche Berg ist eingezäunt und dient in diesem Übungsgelände als Beobachtungspunkt für den Kommandeur.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - (v.l.n.r.) Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Jörg Vollmer, und designierter VJTF2019-Kommandeur, Brigadegeneral Ullrich Spannuth, bei den Presse-Statements |
Wir sollten das Areal auf keinen Fall verlassen. Oben war wenig Platz. Einige Stative wurden wieder eingeklappt und beiseite geräumt. Der Inspekteur des Heeres, Jörg Vollmer, stand oben und begrüßte die Journalisten. Neben ihm der angehende Kommandeur der VJTF(L)2019, Brigadegeneral Ullrich Spannuth, und der Chef der 1. Panzerdivision, Brigadegeneral Jürgen-Joachim von Sandrart. Letzterer trug ein sandfarbenes Halstuch und das schwarze Barett der Panzertruppen.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Kommandeur der 1. Panzerdivision, Brigadegeneral Jürgen-Joachim von Sandrart, vor Teilnehmern der NATO-Übung |
Wir drängten uns um die Fachkompetenz und wurden in die Bedeutung von VJTF und dieser Übung eingeführt.
VJTF steht für
Very High Readiness Joint Task Force und bedeutet soviel wie
Schnelle Eingreiftruppe aus internationalen Kräften. Hinter
VJTF wird gerne noch ein
(L) wie
Landstreitkräfte und eine
Jahreszahl gesetzt. In diesem Falle
2019, also
VJTF(L)2019. Die Zuständigkeit für die
Schnelle Eingreiftruppe der NATO rotiert jährlich. Deutschland ist
2019 dran.
Schnell ist hier in dem Sinne gemeint, dass innerhalb von 48 Stunden Truppen und Materialien an jeden beliebigen Ort der Welt verlegt werden können. Das ist insbesondere deshalb wichtig, da Länder wie Russland das auch können. Die
Very High Readiness wird stufenweise auf- und abgebaut. Im Vorjahr zu 2019 - also jetzt - werden die Stunden zu Tagen. Es reicht also ein Monat für die komplette Verfügbarkeit. Im Jahr danach gilt das Gleiche. Das ist aber so vorgesehen, denn in 2018 oder 2020 sind andere NATO-Staaten für die VJTF zuständig.
Der Verband umfasst 8.000 Soldaten aus 9 Nationen. Bei der heutigen Übung waren hauptsächlich Norweger, Niederländer und Deutsche dabei. Der Laie fragt sich natürlich, wie die 48 Stunden realisiert werden können. Jörg Vollmer erklärte dazu, dass dann alle Materialien konfektioniert bereit stehen und nur noch verladen werden müssten. Er ließ keinen Zweifel daran, dass die Materialausstattung zu 100% den Bedarf deckt. Der General wandte sich auch gegen den Mythos, dass jeder Soldat jedes Gerät gleichzeitig zur Verfügung haben müsse. So sei ein wechselseitiger Austausch von Materialien je nach Einsatz-Szenario normal.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO auf dem Weg nach Schnöggersburg |
Dann ging es los. Alle sollten ihre Ohrstöpsel einsetzen. Dumpf hörten wir den Befehl des Kommandeurs zum Angriff auf das Gelände um Schnöggersburg. Es war nicht nur
ein Befehl, sondern viele Teilbefehle. Es dauerte einen Moment, bis er alle Einheiten zu Fahrtrichtung, Timing und gewünschtem Ergebnis instruiert hatte. Neben dem Beobachtungshügel positionierten sich kleine
Spähwagen Fennek. Einige Soldaten stiegen aus und positionierten sich mit Panzerfäusten im Gelände. Nicht ganz ungefährlich bei der folgenden
Verkehrslage.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO im Gelände vor Schnöggersburg |
Die Verkehrslage wurde unentwegt kommentiert, so dass wir in etwa wussten, was da genau passiert und bezweckt wird. Von links nach rechts zogen dichte Staubwolken. Darin waren jede Menge Leoparden und Marder verhüllt. Zusätzlich wurden Nebelgranaten als Sichtschutz vor Schnöggersburg abgeworfen. Marder und Leopard 2 fahren auf Ketten. Ein Leopard 2 hat 1.500 PS und schafft damit 68 km/h. Sein kleinerer Bruder heißt Marder, hat 600 PS und schafft 65 km/h. Der Kommandeur muss genau wissen, wann er welches Gerät von welcher Seite aus anrollen lässt. Er spielt seine Trümpfe zeitversetzt aus wie beim Skat. Die Reaktion des Gegners könnte ja konträr zu seinem Plan laufen.
Nachdem wir ordentlich eingestaubt waren, begaben wir uns zu den Bussen. Die drei Generäle wurden mit drei G-Klassen zum nächsten Standort gebracht. Die Busse folgten. Am Wegesrand standen Panzer. Einige umrahmt von verbrannter Erde. Teilweise brannte das Gras noch. Das weithin sichtbare gelbe Gebäude am Ortseingang von Schnöggersburg kam näher.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Touristenbusse parken vor dem Sakralbau von Schnöggersburg |
Bus, Sand und Bebauungsplan von Schnöggersburg gaukelten einen Urlaubsort an der spanischen Meeresküste vor. Stilecht hielten die Busse auch direkt vor dem
Sakralbau. Der
Sakralbau sollte eigentlich ein
Mix aus Kirche, Synagoge und Moschee sein - wegen der politischen Korrektheit. In der Praxis redet aber jeder hier von Moschee. Die Häuser befinden sich alle im Rohbau. Es gibt kaum ein Haus mit Wasser oder Stromanschluss. Es sind nur die zur Übung nötigen Elemente wie Wände, Türen, Fenster, Räume und Treppen vorhanden.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Ein Oberst kommentiert den gesamten Ablauf vom gegenüberliegenden Haus aus. Hier nach der Einnahme des Ortes durch die VJTF-Truppen. |
Die Stadtreinigung machte heute Siesta: Patronenhülsen in allen Größen und Farben lagen auf der Straße herum. Wir wurden zu einem Platz geführt, wo bereits die G-Klassen der Generäle parkten. Ein Haus mit Dachterrasse war als Beobachtungspunkt vorgesehen. Von hier aus konnte der Bereich des Ortes eingesehen werden, der für den folgenden Angriff relevant sein solte. Vom gegenüberliegenden Dach aus bekamen wir noch einige Erklärungen zum Geschehen. Dann tauchte der Oberst dort ab.
Nun folgte der Kampf um Schnöggersburg. Das Kräfteverhältnis war sehr ungleich. Die NATO-Truppen griffen zeitversetzt von verschiedenen Richtungen aus an. Es gab direkt vor uns einen Verwundeten, der parallel zu den lauten Kampfszenen versorgt und aus dem
Hotspot gebracht wurde. Die Dachterrasse gegenüber füllte sich mit Patronenhülsen. Knall, Peng, Puff und reichlich Staub und Qualm kennzeichneten die knappe halbe Stunde des Gefechtes um Schnöggersburg.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Die VJTF-Kräfte sichern die eroberten Positionen. Im Hintergrund der Sakralbau von Schnöggersdorf. |
Die psychologische Anspannung beim Häuserkampf muss enorm sein. Deshalb beobachtet der Kommandeur sehr genau die Lage und muss schnell über Rückzug oder Verstärkung entscheiden können. Eine festgelegte Einsatzdauer für die kämpfenden Soldaten gibt es nicht. Deren Belastbarkeitsgrenzen müssen situativ eingeschätzt und behandelt werden. Erleidet ein Soldat PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), ist eine rechtzeitige Erkennung notwendig. Dafür sind nicht die Sanitäter, sondern die Führungskräfte zuständig. Der Betroffene sollte zeitnah aus der Truppe genommen werden. Durch die geminderte Leistungsfähigkeit kann er zum Risiko für das gesamte Team werden. Problematisch wird es, wenn der Leiter selbst von PTBS betroffen ist.
Die NATO geht davon aus, dass sich zukünftige Konflikte zu 70% im urbanen Bereich abspielen werden. Deshalb sind hochmoderne Übungsorte wie Schnöggersburg so wichtig. Es können hier diverse Szenarien geübt werden. Die
Realität ist jedoch wesentlich herausfordernder. Die Innenaufteilung des Hauses ist unbekannt. Wer wird einem im Haus begegnen? Wer von den fünf Personen vor dem Gewehrlauf ist nun der potenzielle Feind? Eine Patrone, fünf Patronen?
Drei bis vier Soldaten pro Tag kommen mit diesem extremen Entscheidungsdruck nicht klar und kehren mit PTBS aus den Einsätzen zurück. Je besser sie auf Grenzsituationen geschult sind, umso besser können sie in Bruchteilen von Sekunden die richtigen Entscheidungen treffen. Die Bundeswehr hat eine PTBS-App entwickelt und das Thema in die kompetenten Hände von Generalarzt Bernd Mattiesen delegiert. Aus der Militärseelsorge war zu erfahren, dass die Heilungs-Chancen bei PTBS sehr gut stehen.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Generalleutnant Jörg Vollmer im Gespräch mit der Presse |
Den Abschluss des Ausflugs nach Schnöggersburg bildeten zwei Statements der Generäle Vollmer und Spannuth. Es konnten Fragen gestellt werden. Dabei schauten wir auf das Rathaus. Es war an der Kuppel und den vier Fahnen davor zu erkennen: Deutschland, Niederlande, Norwegen und NATO. Zum Rathaus hätten wir nicht durchdringen können, da sich die VJTF-Soldaten mit ihren Fahrzeugen in Hollywood-Pose davor aufgereiht hatten.
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VJTF - Schnelle Eingreiftruppe der NATO in Schnöggersburg - Teilnehmer aus den Niederlanden und im Hintergrund ein GTK Boxer unter der Leitung eines deutschen Sanitäts-Teams |
Nach den Fragen verteilten sich die Anwesenden auf dem Platz, kletterten in die Panzer, redeten mit den Soldaten und nahmen O-Töne der Offiziere auf. Immer begleitet vom allgegenwärtigen Staub.
Irgendwann rollte der erste Panzer vom Platz. Das war das Signal zur Rückfahrt. Die Busse brachten uns wieder zur Altmark-Kaserne. Ein spannender Tag in der Natur ging zu Ende. An einer Baustellenampel wischte ich mir durchs Auge: gelber Sand.
Video:
VJTF2019 - Schnelle Eingreiftruppe der NATO nimmt die Übungsstadt Schnöggersburg ein
Autor: Matthias Baumann