Sektenführer Paul Schäfer hatte seine Leute im Griff. Waren sie einst freiwillig aus den Phobien des Kalten Krieges nach Chile ausgewandert, mussten sie nun in ständiger Angst vor körperlicher und psychischer Gewalt durch Paul Schäfer leben. Familien wurden getrennt und in homogene Gruppen umstrukturiert. Gegenseitige Bespitzelung war so normal wie die siebentägige Arbeitswoche. Gehalt gab es nicht, nur die allgemeine Grundversorgung. Wer trotzdem noch Zeit zum Nachdenken hatte, bekam als tägliche Grundversorgung Pillen, die ihn gut einen halben Tag ins Delirium versetzten.
"Es war noch viel schlimmer", bestätigten unisono mehrere der anwesenden Betroffenen, die heute Abend den Film "Colonia Dignidad" im Auswärtigen Amt angesehen hatten. Der deutsche Diplomat Dieter Haller äußerte sich 1987 mit den Worten: "so muss Theresienstadt gewesen sein". Anschließend bekam er so viel Druck von der Sekte und deren befreundeten chilenischen Politikern, dass er sich vorzeitig versetzen ließ.
Filmvorführung "Colonia Dignidad" im Auswärtigen Amt |
Während man in Chile schon lange über den Kindesmissbrauch in der Sekte redete, machte sich die deutsche Botschaft eher als Erfüllungsgehilfe bekannt, so dass sich Aussteiger lieber an die kanadische Botschaft wandten und dort tatsächlich die benötigte Hilfe bekamen.
2005 gab es das erste Gehalt für die Sektenmitglieder. Sie kauften sich davon Kaffee, Kaffeekannen, Fernseher und Mobiltelefone und waren damit erstmals mit der Außenwelt verbunden. Deutsche Diplomaten, die in dieser Zeit vor Ort waren, fanden Menschen vor, die "hoch traumatisiert und Gehirn gewaschen" waren. Paul Schäfer war ein Profi bei der Manipulation seiner Gemeinde, so dass Verlustängste und Schuldgefühle auch heute noch viele der 130 dort lebenden Menschen belasten. Deshalb wurde dringend um Hilfe durch Traumaspezialisten gebeten. Die ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad stehen noch vor einer weiteren Herausforderung. Sie haben wegen der langen unentgeltlichen Zwangsarbeit keinen Rentenanspruch erworben. Die sich als gemäßigt darstellenden aktuellen Sektenführer nutzen das aus, indem sie Land gegen Lebensgeschichten anbieten. Die Decke des Schweigens ist ein wichtiges Prinzip zum Schutz von Missbrauchssystemen.
Colonia Dignidad im Auswärtigen Amt - Selbstkritische Rede des Außenministers |
Colonia Dignidad zeigt wie Sekten und Diktaturen funktionieren:
+ schaffe und nähre Schuldgefühle
+ trenne vertraute und verwandte Personen
+ schaffe eine Atmosphäre des gegenseitigen Mistrauens
+ erfinde zeitintensive und sinnlose Beschäftigungen
+ verhindere wirtschaftliche Handlungsfähigkeit
+ zensiere alles und halte die Außenwelt fern
Ein Aussteiger erzählte mir anschließend, dass eine Gruppe junger Leute über viele Monate gegen die Zustände in der Colonia Dignidad gebetet habe. Dann habe der sichtlich demontierte Paul Schäfer vor einem der Jungen gestanden und gegen die "Mafia"- das organisierte Gebet - gewettert. Drei Tage später setzte sich Schäfer nach Argentinien ab, wo er letztlich festgenommen und verurteilt wurde.
Autor: Matthias Baumann