Freitag, 2. Dezember 2022

Berlin Security Conference 2022 mit Fokus auf den hohen Norden

Nun konnte die Berlin Security Conference (BSC) endlich wieder ohne lästige Corona-Maßnahmen wie Tests, Masken, Abstandsregeln und Abwesenheit der üblichen Teilnehmer stattfinden. Die Industrie hatte wieder ihre Stände aufgebaut, Militärattachés unterhielten sich an den Stehtischen, Bundeswehroffiziere tauschten sich über ihre neuen Dienstposten aus und Verteidigungsminister gaben sich im großen Saal die Klinke in die Hand. Sogar Bundeskanzler Olaf Scholz, Norwegens Premierminister Jonas Gahr Store, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielten Reden. Scholz, Store und Stoltenberg stellten sich dann sogar noch den Fragen des Veranstalters und des Publikums. Der große Saal war bei diesen Programmpunkten so voll, dass viele Zuschauer stehen mussten.

Berlin Security Conference 2022 #BSC22
Berlin Security Conference 2022 #BSC22 - Militärattachés und Stände der Industrie

Leer war der Saal hingegen, als der ungarische Verteidigungsminister Kristof Szalay-Bobrovniczky auftrat. In seiner sehr kurzen Rede legte er dar, wie wichtig Ungarn für die europäische Waffenindustrie sei, wie viel Ungarn nach Deutschland exportiere und dass Ungarn andere Standpunkte vertrete, wie die aktuellen Herausforderungen zu lösen seien. Danach verließ er schnell und breit grinsend den Saal. Mit seiner Russland-freundlichen Haltung stand Ungarn allein bei der BSC. In sämtlichen Reden, Podiumsdiskussionen und themenspezifischen Panels war man sich in der Behandlung Russlands als erstzunehmender Aggressor einig.

Neben der transatlantischen Verbundenheit lag der Fokus auch auf der Nordosterweiterung der NATO durch Finnland und Schweden. Norwegen fungierte als einer der Sponsoren der BSC 2022 und war ebenfalls sehr präsent. Das begann mit dem Munitionshersteller Nammo und endete bei hochrangigen Offizieren und Ministerpräsident Store. Auch Jens Stoltenberg ist Norweger, wobei er hier in NATO-Funktion erschienen war. Die neuen NATO-Mitglieder sehen sich selbst als Bereicherung für das Bündnis. Sie bringen zwar weit über 1.000 Kilometer neue Grenze zu Russland mit, können aber auch liefern: gesamtgesellschaftliche Resilienz, Erfahrung bei der Abwehr hybrider Angriffe aus Russland und Bewährung in extremen klimatischen Bedingungen. Letztere stellen diese Länder seit Jahren für NATO-Trainings zu Verfügung. Die Bevölkerung zeigt sich sehr kooperativ, da sie den sicherheitspolitischen Wert des Bündnisses schätzt.

Berlin Security Conference 2022 #BSC22
Berlin Security Conference 2022 #BSC22 - Diskussionsrunde mit den Chefs der Streitkräfte - von links nach rechts: Vizeadmiral Haggren (Schweden), General Kivinen (Finland), General Kristoffersen (Norwegen), Moderator Ben Hodges, General Lentfer (Dänemark), Admiral Lebas (Frankreich)

Schweden baut derzeit den strategisch wichtigen Punkt Gotland aus. Wer Gotland kontrolliere, kontrolliere die Ostsee. Zudem könne Gotland dreidimensional - also von Land, von See und aus der Luft - verteidigt werden. Finnland macht sich Sorgen um die demilitarisierten Zonen im Nordmeer. Diese müssen im Ernstfall verteidigt werden. Norwegen fährt seine Landesverteidigung auf den Stand des Kalten Krieges hoch und erwartet, dass der neue Kalte Krieg sehr lange dauern werde. Dänemark beschäftigt sich mit dem sehr neuen Thema "Sea Bed Warfare" - Kriegsführung auf dem Meeresgrund. Derzeit wisse man noch viel zu wenig darüber und müsse sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Die Länder des Nordens sehen den Krieg in der Ukraine auch als ihr Kampffeld an. So sei es jetzt wichtig, die Grundbedürfnisse der ukrainischen Soldaten zu erfüllen: warme Kleidung, frisches Wasser, kompetente Führungspersonen mit dem Gespür für das Wohlergehen der Truppe.

Ganz in ihrem Element waren die Drei- und Viersterner auf der BSC. Sie analysierten und diskutierten Lösungen. Ständig wurde C4 eingeworfen: Command, Control, Communication, Computer (Führung, Lagebildprüfung, Kommunikation und IT). Wo immer westliche Technologie auftauche, seien russische Systeme hilflos unterlegen. Überhaupt habe Russland sich selbst massiv überschätzt und den Gegner unterschätzt. Dennoch könne man sich darauf nicht ausruhen, da auch Russland aus seinen taktischen Fehlern lerne. So müsse laut Admiral Rühle mit "Presence, Speed and Rage" (Präsenz, Geschwindigkeit und wütender Entschlossenheit) reagiert werden. Ähnlich konkret ging es im Panel der Vier Heeres-Chefs von Litauen, Niederlanden, Deutschland und Frankreich zu. Die Weichen seien gestellt und Dinge teilweise schon umgesetzt wie die gegenseitige Unterstellung von deutschen und niederländischen Einheiten. Es müsse jetzt noch mehr als bisher gemeinsam trainiert werden. Das Mindset (Denkstrukturen) müsse aufeinander justiert werden und auch die Technik müsse interoperabler werden. Der anwesende Thales-Vertreter warf dazu ein: "Wir können, wenn wir sollen." (We can, if we have to.)

Berlin Security Conference 2022 #BSC22
Berlin Security Conference 2022 #BSC22 - Panel zu Landstreitkräften - von links nach rechts: Generalleutnant Martin Wijnen (Chef des Heeres der Niederlande), Generalleutnant Alfons Mais (Inspekteur des Heeres, Bundeswehr), Generalleutnant Pierre Schill (Chef des französischen Heeres)

Eine große Herausforderung sah Generalleutnant Mais in der Mobilität. Ein ganz brisantes Thema, das in Deutschland mit auf der Straße klebenden Jugendlichen und Verkehrsflächenrückbau in ein vorindustrielles Zeitalter zurückgefahren werden soll. Laut General Mais ist "Mobilität eine der Schlüsselfähigkeiten der Land-Domain". So bringe es nichts, wenn wir das Material zwar haben, dieses aber nicht an den Einsatzort transportieren können. Das sah auch General Wijnen aus den Niederlanden so. Vorbereitung auf einen eventuellen Ernstfall sei extrem wichtig. Der französische General Pierre Schill setzte seinen Akzent bei der Transparenz des Kampffeldes. Durch künstliche Intelligenz, Satellitenfotos und Geodaten solle ein ständig aktualisiertes Lagebild zur Verfügung stehen, welches dann in effektive Kampfszenarien umgesetzt werden könne.

Etwas unkoordiniert wirken die Worte des Bundeskanzlers im Vergleich zu seinem Handeln. Während er auf der BSC das Engagement Deutschlands für die Ukraine lobt und sich klar zur nuklearen Abschreckung, dem europäischen Flugabwehrschirm, mehr Übungen, der Beistandspflicht sowie zu einer strategischen und mentalen Zeitenwende bekennt, ruft er im nächsten Moment bei Putin an und informiert ihn über den Standpunkt der NATO. Als ob sich Putin durch devote Ansprachen beeindrucken ließe. Möglicherweise war das ein Versuch des Bundeskanzlers, den mehrfach auf der Konferenz geäußerten Wunsch nach deutscher Führungsverantwortung zu erfüllen.

Autor: Matthias Baumann