"Wenn Mama und Papa Nein sagen, frage ich Oma", lautet eine bewährte Kinderweisheit. Was im Kleinen funktioniert, lässt sich in der Regel auch auf Großes adaptieren. So tauchte das Zitat eines amerikanischen Spitzendiplomaten ausgerechnet in einem Buch über den Umgang mit Teenagern auf. Er sagte, dass die Auseinandersetzungen mit der pubertierenden Tochter sehr hilfreich gewesen seien für seine Verhandlungen mit den Russen.
Während Amerika schon länger über China enttäuscht ist, beginnt man nun auch in Europa skeptisch zu werden. China kauft gezielt Technologie-Unternehmen auf und investiert an der europäischen Peripherie in Infrastruktur. Was die mediale Beeinflussung betrifft, sind die Chinesen zwar nicht so aktiv wie Russland, aber sie hinterlassen dennoch nützliche Spuren im Gedächtnis der Länder, in denen sie Häfen und Straßen bauen. Vor einigen Jahren hatte man China bewusst in die WTO (Welthandelsorganisation) aufgenommen, um dem Land westliche Werte zu vermitteln und einen attraktiven Handelspartner zu gewinnen. Die Rechnung ging nicht auf, da China seine eigene Agenda verfolgte und lediglich die Vorteile der WTO ausreizte. Die USA sind darüber so verärgert, dass sie die gesamte Arbeit der WTO blockieren.
EU-Indien-Gipfel: Ist Indien das neue China? |
Die WTO nahm am 1. Januar 1995 offiziell ihre Arbeit auf. Sie sitzt in Genf und ist neben der Weltbank und dem IWF (Internationaler Währungsfonds) eine der wichtigsten internationalen Handelsvereinigungen. Viele EU-Staaten inklusive Deutschland sind - wie auch Indien - Mitglieder der ersten Stunde. Indien ist mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern ein starkes Gegengewicht zu China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern. Allerdings liegt dessen Wirtschaftsleistung weit hinter China zurück. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt in China 10.839 USD und in Indien 1.877 USD. Das sind weniger als 20%. Ähnlich gestaltet sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP): Indien wartet mit 2,59 Billionen USD auf, während China 15,2 Billionen USD erwirtschaftet. Deutschland erwirtschaftet insgesamt 3,78 Billionen USD bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 45.466 USD.
Indien ist wirtschaftlich also kein adäquater Ersatz für China. Dessen ist sich wohl auch die Bundesregierung bewusst. Kein Wunder also, dass Angela Merkel in der heutigen Pressekonferenz zum EU-Indien-Gipfel sehr verhalten auf die Frage zu einer möglichen Verschiebung der wirtschaftlichen Interessen von China nach Indien antwortete. Die handelnde Weltgemeinschaft befindet sich in einem Dilemma: Einerseits stützt der Handel mit China den eigenen Wohlstand. Andererseits ist China ein zunehmend unsicherer Partner. Ja, China wird als "systemischer Wettbewerber" gehandelt. Über dem Südchinesischen Meer knistert schon der Brandgeruch eines umfangreichen militärischen Konfliktes. Die benachbarten Staaten von Vietnam bis Japan starren auf die ambitionierten Machenschaften Chinas in der Region. Für Deutschland würde eine Eskalation der Situation bedeuten, dass etwa 30% des internationalen Warenverkehrs davon tangiert wären. Ein Gegenpol muss her!
Militärisch ist Indien ein ernst zu nehmender Player. Indien besitzt Atomwaffen. Diese sollten bislang zur Abschreckung gegenüber seinem muslimischen Nachbarn Pakistan dienen. Pakistan hat nur 233 Millionen Einwohner, aber eine ähnliche Wirtschaftsleistung. Wenn sich Indien und Pakistan streiten, freut sich China und baut durch Pakistan einen langen Verkehrsweg zur Küste des Indischen Ozeans. Damit sichert sich China einen Zugang zum Indischen Ozean und kann einer Auseinandersetzung mit Indien zumindest in diesem Punkt gelassen entgegen sehen. Dass sich Pakistan und Indien irgendwann besser verstehen werden, ist derzeit nicht anzunehmen. Der Weg durch Pakistan versüßt allerdings auch der EU die Handelsbeziehungen zu China. Wenn dann nämlich der Krieg im Südchinesischen Meer beginnt, kann der Handel über die Pakistan-Route fortgesetzt werden.
Um die Chinesen davon zu überzeugen, die Gelüste an den Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres etwas herunterzufahren, entsendet Großbritannien einen Flugzeugträger in die Region. Im August wird auch unsere Fregatte "Bayern" in den Indo-Pazifik aufbrechen. Weitestgehen unbemerkt von der deutschen Berichterstattung laufen bilaterale Verhandlungen mit Werte-Partnern von Australien, über Japan bis Singapur. Es wird ein Netz aus Koalitionen als Gegengewicht zu China gesponnen. Indien ist Teil dieses Netzes. Ein wichtiger Teil.
Deshalb haben Indien und die EU eine Roadmap mit 118 Punkten aufgesetzt. Darin geht es beispielsweise um Mobilfunknetzwerke, den Austausch von Fachkräften, Städtepartnerschaften, Bildungsaustausch, Unterstützung bei Transport und Infrastruktur oder Win-Win-Effekte durch trilaterale Beziehungen. Ein großes Problem für einen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen stellen Geldwäsche und Steuerbetrug dar. So wissen Unternehmensberater zu berichten, dass es in Indien und anderen Ländern Asiens üblich sei, nur einen Teil des Rechnungsbetrages über Bankkonten abzuwickeln. Der Rest fließe als Bargeld. So komme es nicht selten vor, dass ganze Schränke mit Bargeld vorgehalten werden, deren Inhalt beim Kauf großer Investitionsgüter den Ort der Einlagerung wechselt. Dennoch sei man laut Bundeskanzlerin mit Indien viel weiter als mit China. Mit China gebe es nur ein Investitionsabkommen. Mit Indien gehe es bereits um ein Freihandelsabkommen.
Autor: Matthias Baumann