Der gemeine Hauptstadtjournalist ist normalerweise erst nach mehreren Tassen Kaffee und bei Terminen ab zehn Uhr einsatzfähig. Die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) forderte Teilnehmer und Presse auf ihre sehr spezielle Weise heraus. Denn schon um halb acht beginnen die ersten Gesprächsrunden -
Breakfast genannt. Da sich der Terminplan sehr kurzfristig ändern oder erweitern kann, tut man gut daran, auch schon um diese Zeit vor Ort zu sein und den verschlafenen Blick auf den Ticker an den Großleinwänden zu werfen. Profis haben neben der Kaffeetasse sogar noch das druckfrische Programmheftchen des Tages zu liegen.
Unter permanentem Abgleich von Ticker und Programmheft läuft der Rest des Tages nur bedingt planbar ab. Flexibilität und schnelle Entscheidungen sind gefordert. Nachdem das Kreuzchen bei den Reden von AKK und Sergey Lavrov in der
Conference Hall gesetzt sind, blättert man auf die nächste Seite und sieht einen Paralleltermin im
Königssaal. Was ist jetzt wichtiger? Passt das mit den Anschlussterminen? Anhören im Pressezelt oder Dabeisein im Königssaal? Wann ist Pooling und wie lang sind die Wege zwischen den Terminen? Darf schreibende Presse bleiben oder muss sie mit der Bildpresse nach fünf Minuten den Raum verlassen?
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#MSC2020 Münchner Sicherheitskonferenz - Informationsmaterial zur Planung des Tagesablaufs |
Es gibt viele Abstufungen in der Zutrittsberechtigung. In diesem Jahr ist die Presse Gelb. Dann gibt es noch Gelb mit Blau und Gelb mit doppelt Blau. Je mehr blaue Streifen, umso weiter der Bewegungsradius. Es gibt Grün und Blau und Grau. Da die Badges Fotos und einen Transponder enthalten, kann beim Durchlaufen eines Eingangs immer gesehen werden, ob das Badge zur herzutretenden Person passt. Auf einem Display erscheint ein riesiges Passfoto nebst Namen. Die namentliche Begrüßung der Herzutretenden muss relativ frühzeitig ausgesetzt worden sein.
Samstag ist der Powertag bei der MSC: Präsidenten, Verteidigungsminister, Außenminister und andere wichtige Personen geben sich die Klinke in die Hand. Mitarbeiter des Hotels stürzen mit Bergen von Tischdecken, Gläsern und Stühlen durch die Gänge. Es gibt eine gefühlte 1:1-Betreuung durch Sicherheitspersonal im zarten Jugendalter. Generale und Staatssekretäre drängen sich an wartenden Delegationen vorbei. Präsidenten, die kürzlich noch auf dem roten Podest im Kanzleramt standen, wühlen sich mit ihren Personenschützern durch die Massen. Handschlag? Selfie? Kein Problem.
In dieser geballten Form kommen wohl nur noch in Davos die Spitzenpolitiker zusammen. Die MSC ist jedoch kein Wirtschaftsforum, sondern betrachtet sämtliche Themen aus dem Blickwinkel der Sicherheitspolitik. Das betrifft auch Corona, Big Data, Social Media oder den Klimawandel. Zu letzterem Thema durfte diesmal Jennifer Morgan von Greenpeace eine Einleitungsrede halten. Für das Fachpublikum war diese jedoch nicht annähernd so spannend und überzeugend, wie die wissenschaftlichen Hochrechnungen von Prof. Schellnhuber auf der MSC 2019.
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#MSC2020 Münchner Sicherheitskonferenz - Kasachstans Präsident Kassym-Jomart Tokayev |
Der Vorteil an diesem Umstand war, dass ad hoc auf eine Parallelveranstaltung im Königssaal umdisponiert werden konnte. Nämlich die Geografie in Asien - eine Diskussionsrunde mit den Präsidenten Kasachstans und Afghanistans.
Kassym-Jomart Tokayev hatte Ende des letzten Jahres die Kanzlerin auflaufen lassen, indem er demonstrativ zur eigenen Nationalhymne aufgestanden war und sogar die Hand aufs Herz gelegt hatte. Auch in dieser Runde gab er sich konsequent loyal gegenüber Russland und China. Die Sandwich-Position seines Landes sei ein Segen, da es von Russland und China profitiere. Afghanistan zeigte sich hingegen loyal gegenüber den USA und der NATO. Da sich die Drogenproduktion für Afghanistan lohne, werde kaum etwas dagegen unternommen. Das tangiert auch den Nachbarn Kasachstan. Kasachstan dient schon lange als Transitland und hat inzwischen eine steigende Zahl an Konsumenten. Mit One Belt One Raod (OBOR) werden die chinesischen Partner sicher für eine weitere Vereinfachung der Drogenlogistik sorgen.
Vor dem Königssaal gab es das übliche dichte Gedränge. Der Leiter Protokoll BMVg bahnte sich einen Weg. Es war zu erfahren, dass Annegret Kramp-Karrenbauer wie am Fließband bilaterale Gespräche mit Amtskollegen führe. Nur die Bundeswehrredaktion war für die Auftaktbilder zugelassen.
Klimawandel und asiatische Geografie waren nicht die einzigen Herausforderungen des Tages: "Zuckerberg oder Golfkrise?", war die Frage. Wer möchte ihn nicht einmal live sehen, den berühmten Mark Zuckerberg von Facebook? Gemäß der Altersstruktur der MSC-Teilnehmer konnte die Prognose gewagt werden, dass die Conference Hall voll ist. Deshalb fiel die Entscheidung leicht, sich dem Thema "Deeskalation in der Golf-Region" zuzuwenden. Und dazu wurde im Königssaal alles aufgefahren, was in der Region Rang und Namen hat: Mohammad Javad Zarif (Außenminister des Iran), Sheikh Mohammed bin Abdulrahman Al Thani (Außenminister von Katar), Sheikh Ahmed Nasser Al-Mohammed Al-Sebah (Außenminister von Kuwait), Mevlüt Cavesoglu (Außenminister der Türkei), Yusuf bin Alawi bin Abdulla (Außenminister von Oman), Prince Faisal bin Farhan Al Saud (Außenminister von Saudi Arabien) und der in dieser Runde eher unspektakulär wirkende US-Senator Christopher Murphy.
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#MSC2020 Münchner Sicherheitskonferenz - Afghanistans Präsident Mohammad Ashraf Ghani (rechts) im Gespräch mit dem Moderator Richard N. Haas |
Achtung! Hier endet die Aufzählung der Namen. Die Liste deutet jedoch an, wie wichtig diesen Spitzenpolitikern der Dialog bei der Münchner Sicherheitskonferenz ist. Ja es ist sogar so, dass sie sich auf eine Moderatorin wie die BBC-Korrespondentin Lyse Doucet einlassen. Da kann man nie wissen, welche Fragen sie stellen wird und wie sie in ihrer unerbittlichen Art das Gespräch auf den Kern zurückführt. Mohammad Javad Zarif aus dem Iran sah das gelassen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ließ den Dialog selbstsicher und entspannt über sich ergehen.
Bei den Ausführungen des Mannes aus dem Iran kam zum Ausdruck, dass man sich von den USA nicht "austrocknen" lasse. Überhaupt sehe man nicht ein, warum man den USA entgegenkommen solle, wenn diese ihrerseits keine Zugeständnisse machen. Der türkische Außenminister setzte noch einen drauf, indem er den momentanen Feind Nummer Eins - China - als "ein Glück" für die Türkei bezeichnete. Die Türkei sei schließlich das Zentrum der neuen Seidenstraße OBOR.
Etwas moderater argumentierten die Scheichs aus Katar und Kuweit. Auch für ihre Länder stehe viel auf dem Spiel, wenn der Iran den Seeweg abschneidet. Deshalb sei man sehr an einer Deeskalation und einer dauerhaften Lösung des Problems interessiert. Die Region brauche den Handel und die Abnahme ihres Öls. Nachdem Prince Faisal bin Farhan Al Saud sehr direkt mit dem jüngsten Journalistenmord konfrontiert worden war, sprach er sich für eine weitere gute Zusammenarbeit mit der Trump-Administration aus. Auch das Jemen-Problem wolle man friedlich lösen. Der Erfolg sei aber auch von anderen Playern abhängig.
Apropos Trump: Die Eröffnungsstatements dieses Samstags wurde von Mike Pompeo (Außenminister der USA) und Mark Esper (Verteidigungsminister der USA) gehalten. Für die USA gibt es demnach momentan nur eine Priorität: China. China ist eine Diktatur, China verbreitet einen Virus, China rüstet auf, China überholt den Westen technologisch, China ist ein Risiko für die Werte des Westens. Man habe sich in China getäuscht. Vor 20 Jahren war China in die WTO aufgenommen worden, um das Land sukzessive in eine Demokratie umzufunktionieren. Stattdessen sei China wirtschaftlich erstarkt und tue heute so, als sei ihr kommunistisches System den westlichen Demokratien überlegen. Man habe sich verkalkuliert. Während die Europäer Russland als Hauptbedrohung ausgemacht haben, spielt Russland in der Betrachtung der USA nur eine weit untergeordnete Rolle. Mike Pompeo erwähnte zwar die erfolgreichen "Russian Desinformation Campaigns", wechselte dann aber gleich wieder das Thema und wiederholte in gut dosierten Abständen: "The West is winning!" - "The West is winning!" (Der Westen gewinnt!)
Das China-Bashing zeigte sehr deutlich, dass amerikanische und europäische Interessen auseinanderdriften. Ein Umstand, der nicht ungefährlich ist, wenn man die anschließenden
Ausführungen von Emmanuel Macron reflektiert. Seine Worte schlugen wie ein Gewitter in das für Europa typische politisch korrekte Wischiwaschi ein. Keine Floskeln, sondern ein klar formuliertes Lagebild. Noch Stunden später war ein NDR-Kollege erschüttert von der Aussage, dass Europa "keine Antikörper mehr zum Schutz unserer Demokratie" hätte. Wir seien inzwischen "sehr, sehr verletzlich".
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#MSC2020 Münchner Sicherheitskonferenz - Conference Hall - Der Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, schaut sich im Publikum um. |
Laut Macron habe es China richtig gemacht. China habe in seine Zukunft investiert, während in Europa durch eine verfehlte Finanzpolitik - das war ja schon immer sein Thema - der Mittelstand geschwächt und nahezu abgeschafft worden sei. Und was der Mittelstand noch gehabt habe, hätte er an die Chinesen verkauft. Im Gegensatz zu seinen amerikanischen Vorrednern, ging Macron auf Russland ein. Russland sei per se schwach und könne auf längere Sicht keinen heißen Konflikt - wie einen Krieg - mit Europa austragen. Russland nutze daher schamlos die europäische Verletzlichkeit aus und befeuere sehr professionell das Thema Desinformation. Deshalb müsse Europa weiterhin misstrauisch gegenüber Russland sein sowie "brutal", "konsequent" und "glaubwürdig" auftreten. Ein Tenor, der sich vor zwei Tagen auch durch die Rede von Generalleutnant Jörg Vollmer gezogen hatte. Macron gab Donald Trump Recht, dass dieser mehr Eigenverantwortung bei der Selbstverteidigung Europas einfordert. Im Verteidigungsbündnis Europas spiele auch der Brexit keine Rolle.
Der Reiz der MSC besteht darin, dass auch Kontrahenten zu Wort kommen. So trat dann auch der Außenminister Chinas, Wang Yi, auf. In einer überaus blumigen Sprache lobte er die Weisheit und Stärke der Führung von Xi Jing Ping. Man führe derzeit einen "Krieg ohne Rauch" gegen den Corona-Virus. Man kämpfe und schütze jeden in der Bevölkerung vor dem Virus. Die Größe und Effizienz der Maßnahmen sei bewundernswert und zeigten die Vorteile des chinesischen Systems. Am Kampf seien ganz viele Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligt, die als Helden bezeichnet werden. "Der Morgen naht und wir sehen das Licht", war der optimistische Ausblick zum Sieg über den Virus. "Wir sind eine dankbare Nation", wurde eine Aufzählung in einer interessanten Reihenfolge eingeleitet: Republik Korea, Weißrussland, Russland ... Grußkarten, Telegramme ... Italien, Großbritannien, Frankreich. Überhaupt habe China schon immer Völker in ihrem gerechten Kampf unterstütz, wie zum Beispiel die Palästinenser.
Da vor dieser Rede viel auf China eingeprügelt worden war, plädierte Wolfgang Ischinger, der Leiter der MSC, dafür, auch endlich einmal Worte der Ermutigung für China zu finden. Immerhin hätten sie gerade mit dem Virus erhebliche Herausforderungen zu meistern. Wang Yi knüpfte an diesem Punkt an und sagte, dass die "Schmierenkampagnen" der US-Repräsentanten "alles Lügen, keine Tatsachen" seien. Wenn man das umdrehe und auf die USA anwende, werden "aus Lügen Tatsachen". Der Außenminister sprach sich für eine engere Zusammenarbeit mit der EU aus und legte damit einen gefährlichen Köder zur Abspaltung gegenüber der USA. China kennt die Befindlichkeiten der Europäer und nutzt diese konsequent für eigene Zwecke aus. Die neue Seidenstraße soll schließlich auch durch Europa gehen.
Wer es geschafft hat, bis zu dieser Stelle zu lesen, dem sei gesagt, dass es sich hier um das Pensum nur
eines Tages der Münchner Sicherheitskonferenz handelt. Es liefen noch diverse Parallelveranstaltungen wie "Politik und Big Date" oder "Ein Update zu Nagorny-Karabach", ganz abgesehen von den vielen bilateralen Unterredungen, die kaum jemand mitbekommen hat, die aber die Geschichte in einigen Regionen der Welt in eine positive Richtung lenken. Der Wert dieser Konferenz kann nicht mit Geld aufgewogen werden, da hier in kleinen und größeren Formaten lebenswichtige Entscheidungen getroffen und auch Konflikte beigelegt werden.
Video:
#MSC2020 - Impressionen von der Münchner Sicherheitskonferenz
Autor: Matthias Baumann