Wer Freunde oder Kunden gewinnen möchte, sollte drei Grundprinzipien beherrschen: Namen, Namen, Namen. Wer den Namen seines Gegenübers kennt und nennt, signalisiert ihm, dass dieser wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Lehrer, die sich die Namen ihrer Schüler nicht merken können, sollten den Beruf wechseln. Faszinierend sind Besuche bei einem hoch frequentierten Hausarzt, dessen Personal auch dann den Namen des Patienten kennt, wenn dieser unangemeldet erscheint.
Bereits im zweiten Kapitel der Bibel wird erwähnt, dass der Mensch allen Lebewesen Namen geben solle. Wer die Bibel bis zum Ende durchlesen möchte, muss einige Hürden nehmen: Die größte Herausforderung stellen wohl die unzähligen Namenslisten dar. Hartnäckige Leser lassen sich dadurch nicht abschrecken und stellen fest, dass die Nennung oder das Weglassen von Namen eine versteckte Botschaft in die Schilderungen legt. Das Neue Testament beginnt sogar mit einer langen Namensliste der Vorfahren von Jesus Christus. Diese wird letztlich sogar noch in eine Zahlensymbolik zerlegt.
Übrigens lassen sich auch Probleme leichter lösen, wenn sie beim Namen genannt werden. Wenn Betroffene in einem langen Vortrag ihr diffuses Anliegen vortragen, langweilen sie möglicherweise die potenziellen Helfer und müssen mit dem Thema dann alleine fertig werden. Deshalb versuchen autoritäre Systeme bis heute die Vielzahl ihrer Probleme auf ein Problem zu verdichten und diesem einen Namen zu geben. Das Dritte Reich war bei der Findung des einen Namens nicht sonderlich kreativ und konzentrierte sich auf eine Personengruppe, die schon seit Jahrhunderten als Zusammenfassung für alle Probleme herhalten musste.
Neu war beim Dritten Reich allerdings die industrielle Vernichtung der als Platzhalter eingesetzten Gruppe: Erfassung, Kategorisierung, gesellschaftliche Demontage, marktbezogene Verwertung von Arbeitskraft und Besitz sowie logistisch perfektioniertes Massenmorden. Die einzelnen Stationen wurde dokumentiert mit Ausweisen, Passierscheinen, Zugangslisten und Totenscheinen. Damals natürlich noch per Füllhalter oder Schreibmaschine auf Papier. In nur 12 Jahren hatten sich auf diese Weise über 10 Millionen Namen angesammelt - auf Papier, das inzwischen vergilbt ist. Nach dem Krieg wurden diese Papierberge in den Arolsen Archives zusammengetragen. Die Arolsen Archives wurden von den Alliierten bewusst im zentral gelegenen Bad Arolsen bei Kassel angesiedelt.
Während einer Pressekonferenz im August hatte das DRK im Zusammenhang mit der Suche nach Vermissten des Krieges auf den enormen Aufwand zur Digitalisierung von Karteikarten hingewiesen. Man habe zwar Zugriff auf die Belege, diese müssten jedoch recht mühevoll für eine digitale Nutzung aufbereitet werden. Das Zauberwort heißt OCR (Optical Character Recognition - zu Deutsch: Texterkennung). Soweit die Theorie, die von Texten ausgeht, die am Computer oder in einem Rechenzentrum ausgedruckt wurden. Das Einlesen von Schreibmaschinen-Seiten lässt sich auch noch halbwegs automatisieren. Vorausgesetzt, die Fallen der Formatierung werden intelligent abgefangen. Wer einmal ein Programm zum Einlesen einer CSV-Datei geschrieben hat, weiß, wie die Behandlung möglicher Falschformatierungen allein bei Datumsangaben ausufern kann.
Im relevanten Zeitfenster wurden die Listen allerdings auch noch in alter deutscher Schreibschrift geführt. Die schönste Handschrift hilft nichts, wenn die Zeilen so eng sind, dass Buchstaben in die benachbarten Zeilen hineinragen und dadurch ganze Namen unleserlich werden. Ganz abgesehen von Zeilen, die von der Rückseite durchscheinen. Um das zu klären, hilft derzeit noch keine künstliche Intelligenz (KI). Da hilft nur der forensische Blick eines echten Menschen.
Diese echten Menschen werden von den Arolsen Archives gesucht. 10.000 Helfer konnten bereits gewonnen werden. Das nennt sich Crowdsourcing. Ein Begriff, der die sperrige deutsche Umschrift besser auf den Punkt bringt: Auslagerung von Aufgaben an eine Gruppe von Freiwilligen. Wer mitmachen möchte, benötigt nur einen Browser und muss keine weitere Software installieren. Die Dokumente stehen als Scan zur Verfügung und können am Bildschirm vergrößert werden. Bei Unklarheiten kann nach Namen oder Datumsangaben in der Datenbank gesucht werden - alles sehr einfach und intuitiv bedienbar gehalten. Die ermittelten Daten werden dann in ein einfaches Webformular eingetragen. Die Qualitätssicherung ist so gestaltet, dass ein Datensatz erst dann freigeschaltet wird, wenn er durch mindestens eine weitere Person mit identischen Angaben zu Datum und Namen erfasst wurde.
Auf diese Weise füllt sich die Datenbank mit Eckdaten zu Biografien, die ohne das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg anders verlaufen wären. Angehörige können bei erneuter Suche vielleicht doch noch einen späten Treffer landen und erfahren, was mit den Eltern, Geschwistern, Freunden oder Kindern geschehen ist und wo ihr letzter Aufenthaltsort war. Ungewissheit, Warten und Trauer finden so nach über 75 Jahren vielleicht doch noch einen Abschluss für die Hinterbliebenen.
Sie möchten #EveryNameCounts unterstützen? Klicken Sie hier!
Autor: Matthias Baumann